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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

30. 11. 2013 - 15:29

Das Fremde Meer

Katharina Hartwell erzählt in ihrem Debüt die Geschichte einer Liebe, aber auf ganz andere Art, als man das von einem "Liebesroman" erwarten würde.

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Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen, dass die Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind. Dass man ihnen entkommen kann, wenn man sie erwartet.

Mit diesen Worten stellt sich die Protagonistin Marie bei uns vor. Sie erzählt über sich, ihre Kindheit bis jetzt zum Studium in der großen Stadt und es ist leicht ihr zu folgen. Man findet sich in ihren Gedanken und ihrem Leben wieder, man kann das alles gut begreifen und ihre Unsicherheiten nachempfinden, man will mehr von ihr wissen. Als dann ihr Onkel stirbt und sie mit ihrer Schwester zusammen auf's Land, in das Dorf ihrer Kindheit, fahren muss, gerät sie an den Rand des Kollaps:

In der Bibliothek sitzend bin ich sicher, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht und ich eines Tages meinen Laptop zuklappen und nie wieder öffnen werde, ich werde schlafen, in der Bibliothek und zu Hause, an den Morgen, den Mittagen, den Abenden und durch die Wochen hindurch.

Doch statt des großen Zusammenbruchs kommst du.

Durch Städte, durch Hallen, durch Wälder

An dieser Stelle bricht die Erzählung ab, bzw. beginnt hier erst der Roman. In zehn Geschichten erzählt uns Katharina Hartwell von Marie und diesem noch fremden "du", das später Jan heißen wird. Zumindest ist das eine Art, das vorliegende Buch zu verstehen, denn wer weiß ob tatsächlich Marie gemeint ist, wenn von Moira, Milan, oder Mare erzählt wird.

Im Kopf assoziiert man alle Personen, deren Namen mit M beginnen mit Marie, an die man sich am Anfang des Buches bereits gewöhnt hatte, die man liebgewonnen hat und nach der man als Leser_in unentwegt sucht. Ihr Gegenüber heißt Yann, Jasper oder Jacques und die Schauplätze der einzelnen Geschichten variieren so stark wie die literarischen Genres, in denen sie uns vermittelt werden.

island iceland

Christian Pausch

Spielt eine Geschichte in einer utopischen Stadt, in der die Häuser ihre Orte wechseln, wie es ihnen gefällt, so spielt die nächste in einem Krankenhaus im neunzehnten Jahrhundert, eine andere auf einer matriarchal geprägten Insel oder auf einem geisterhaften Schiff gefangen zwischen Raum und Zeit.

Rescue Me

Gewisse Anhaltspunkte ähneln sich aber doch in fast allen Geschichten: einerseits die beiden Protagonisten_Protagonistinnen, auch wenn ihre Namen, ihr Geschlecht, ihre Tätigkeiten variieren; und andererseits die Gefahr, die ihnen in jeder Geschichte lauert. Diese ist oft sehr unbestimmt, tritt aber auch manchmal sehr klar, oder gar in Menschengestalt auf. Darin liegt auch die treibende Kraft dieser Liebesgeschichte(n): Die Hauptfigur M. muss J. unentwegt retten und erkennt nicht, dass sie nur dadurch selbst gerettet wird.

Auch das Meer ist ein wiederkehrendes Motiv in allen Geschichten, auch wenn es wie in einer der Erzählungen, einem Märchen, in Gestalt eines alles verschlingenden Waldes auftritt, oder wie in der darauffolgenden Geschichte tatsächlich als raue See:

Ohne dass jemand es gesehen oder gehört hat, ist das Meer verschwunden. An seine Stelle ist ein neues, ein fremdes Meer getreten. Fische gibt es darin nicht. Keine Muscheln und keine Seesterne. In dem fremden Meer gibt es bloß das Fremde. Das, was keinen Namen hat und nur des Nachts und nur im Dunklen aus den Fluten steigt. Darum verriegeln die Frauen Türen und Fenster, wenn die Sonne untergeht.

meer

Berlin Verlag

"Das Fremde Meer" von Katharina Hartwell ist im Berlin Verlag erschienen.

And the sea came by

Das Fremde Meer ist für Menschen geeignet, die Liebesromane sonst nicht lesen würden. Die unkonventionelle Art des Erzählens, die vielen verschiedenen Geschichten und Stile sind ein Sammelsurium an Ideen mit denen hier großzügig um sich geworfen wird, ohne dass es je zu viel wird. Jede Geschichte steht für sich allein und ist dennoch Teil des großen Ganzen, mit jeder Erzählung verdichtet sich das Bild von Marie und ihrem Jan.

Und irgendwann mittendrin merkt man, dass sich nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Liebe zwischen den beiden immer wieder zu retten versucht, indem sie sich in neuen Geschichten manifestiert. Spätestens da erkennt man dann auch das Potential von Katharina Hartwell, die in diesem Buch ein geniales Konstrukt aus verschiedenen Genres, Emotionen und großen Gedanken erschaffen hat, die lange nachhallen.

Vielleicht, denkt Yann, ist es nicht das Meer, das fremd geworden ist, vielleicht sind sie selbst es.