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Roland Gratzer

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28. 11. 2013 - 11:09

Grabschändung von Gottes Gnaden

In "Friedhof der Unschuldigen" erzählt Andrew Miller von der königlich verordneten Räumung eines Friedhofs im vorrevolutionären Paris. Wenn die Moderne gegen das Faulgas kämpft.

Jean Baptiste Baratte ist nervös. Der Ingenieur aus dem Norden Frankreichs, wo die Menschen noch langsam denken und reden, sitzt im Vorzimmer eines Ministers. Aber nicht irgendwo. Sondern in Versailles. In prachtvolle Gewänder gekleidete Hofdamen mit blassen und gleichzeitig clownesk geschminkten Fratzen schlurfen durch die Gänge, vor ihm pisst ein Hund in die Ecke. Der Minister wird dem Ingenieur, der bisher erst eine kleine Brücke gebaut hat, den größten Auftrag seines bisherigen Lebens geben: Die Beseitigung des jahrhundertealten "Friedhofs der Unschuldigen" in Paris.

Der Friedhof der Unschuldigen in Paris. Eröffnet im Jahr 1186, in echt geschlossen im Jahr 1780. Schätzungen zufolge wurden dort rund zwei Millionen Menschen begraben. Und die Anrainer daneben können mit Fug und Recht behaupten, auf der Urmutter der Friedhofstribünen gelebt zu haben. Grund für die Beseitigung des Areals waren mehrere Todesopfer durch Faulgas in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Schon der Beginn von Andrew Millers jüngstem Historienroman macht diese seltsame Zeit nicht nur seh- sondern auch riechbar. Frankreich in den Jahren 1785/86. Noch herrscht ein einfältiger König und seine verschwenderische Gattin (auch bekannt als Kirsten Dunst) über ein hungerleidendes Volk. Doch bald werden sich die Hirngespinste von jungen Bürgerlichen und Denkern wie Voltaire zu einem Flächenbrand aus Revolution, Massenmord und dem Schritt in eine Kriegs-Monarchie entwickeln.

Friedhof der Unschuldigen, Buchcover

Zsolnay Verlag

Das Buch ist eigentlich schon 2011 erschienen, wurde jetzt aber von Nikolaus Stingl ins Deutsche übersetzt und ist im Zsolnay Verlag erschienen.

Doch die Geschichte rund um den Gottesacker mitten in der Stadt und dem daraus resultierenden Mundgeruch der direkten Anwohner ist kein Geschichtsunterricht. In einem Gespräch mit seiner Lektorin im März 2013 beschreibt Miller seine enden wollende Recherchetätigkeit so: "Es gibt nicht sehr viele Unterlagen, aber ich hätte bestimmt mehr finden können, wäre es für mich bedeutend gewesen."

Und bedeutend ist diese penible Faktentreue wirklich nicht. Als LeserInnen wissen wir, was diesen Menschen bevorsteht. Ihre teils kindlichen revolutionären Spielereien (Graffiti, uiuiui), ihr Drang nach Veränderung und ihre unüberwindbaren sozialen Glasdecken aus Stahlbeton werden nur wenig später den Beweis dafür antreten, dass auch Könige geköpft werden dürfen. Das geschah zwar auch schon vor der Französischen Revolution, doch nicht in dieser Gesamtheit.

Diese Geschichte rund um die Geschichte erzählt Miller anhand mehrerer Figuren, die sich um die Hauptfigur und den Friedhof bewegen. Ein halb wahnsinniger Pfarrer, der die Abrissbirne der Moderne so gar nicht wahrhaben will, ein trunksüchtiger Kirchenorganist mit feuerrotem Haar, verlumpte und zerlauste Bergarbeiter, die Knochentürme bauen, eine Prostituierte, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Königin Marie Antoinette nur "die Österreicherin" genannt wird und ein Jugendfreund des Ingenieurs, der dem unsicheren Jean Baptiste den Verrat an den utopischen Fantasien der Jugend vorwirft, bevor er sich an der unschuldigen Tochter des Messners vergeht. Dazu tauchen auch immer wieder Figuren auf, die beim Lesen ein gutes Gefühl geben, weil wir sie irgendwie kennen. So zum Beispiel ein gewisser Dr. Guillotin.

Apropos Ingenieure, Maschinen und Frankreich im 18. Jahrhundert: Wer sich über den Wandel vom kollektiven Erschaffen zum Erfinder-Genie und zur Konzentration auf Leistung statt auf Aussehen von Maschinen interessiert, sollte dieses Buch lesen:

Die Maschine von Marly

Ein neuer Geist weht durch das Frankreich des späten 18. Jahrhunderts. Die Beseitigung eines krank machenden Friedhofs in Paris wird das Unterdrückungs-Regime des Adels nicht retten können. Das wissen sie in "Friedhof der Unschuldigen" aber noch nicht. Umso schöner ist es, diesem Vorspiel der Revolution zuzuschauen. Auch wenn die Überprüfung des eigenen Mundgeruchs beim Lesen fast schon manisch wird.