Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Gorki postmigrantisch"

Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

16. 11. 2013 - 18:03

Gorki postmigrantisch

Letzte Woche eröffnete das Gorki Theater in Berlin die neue Spielzeit mit einer neuen Intendantin. Diese eher theaterinterne Meldung wird in Berlin und Deutschland als kleine Sensation und Aufbruch in ein neues Theater-Zeitalter gefeiert.

Shermin Langhoff ist die erste Deutsche mit türkischen Wurzeln, die Intendantin an einem deutschen Stadttheater wurde. 1969 in Bursa geboren, kam sie im Alter von neun Jahren als Gastarbeiterkind nach Deutschland. Sie arbeitete in der Film-Branche und kuratierte 2003 das deutsch-türkische Festival "Beyond Belonging", bevor sie die kleine Kreuzberger Off-Spielstätte Ballhaus Naunynstraße übernahm und dort den Begriff des "postmigrantischen Theaters" erfand. In einem Interview definierte sie damals den neuen Begriff:

Shermin Langhoff und Jens Hillje

Gorki-Theater

Shermin Langhoff und Jens Hillje

"Anders als in Großbritannien oder Frankreich ist es in Deutschland alles andere als selbstverständlich für Menschen, die nicht von deutschen Vorfahren abstammen, als Teil des öffentlichen Lebens wahrgenommen zu werden. Theaterkünstler mit so genanntem Migrationshintergrund sind immer noch eine Ausnahme. ... Wo der Themenkomplex Migration nicht per se ausgespart wird, erfolgt oft eine sensationalistische Verwertung von Klischees. Die Figur des Migranten oder der Migrantin wird quasi bauchrednerisch von weißen, bio-deutschen Sprechern geführt und höchstens durch Verwendung von Darstellern mit dem 'richtigen' Hintergrund authentifiziert.
Wir haben uns das Label 'postmigrantisch' gegeben, weil wir mit dem oben beschriebenen Zustand brechen wollten. Gleichzeitig geht es um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht 'postmigrantisch' in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft."

Trotz des Erfolges am Off-Theater war die Überraschung groß, als Shermin Langhoff als neue Leiterin des altehrwürdigen Gorki-Theaters vorgestellt wurde. Von nun an wird also im Gorki von postmigrantischer Gesellschaft und von postmigrantischer Identität zu hören sein.

Schließlich leben wir in einer Gesellschaft mit Millionen von längst eingesessenen und jährlich Hunderttausenden von neuen Zuwanderern. Ein Ziel wäre, das Theater auf lange Sicht "farbenblind" zu machen - das wäre zum Beispiel erreicht, wenn türkische oder afrikanische Darsteller mit ebensolcher Selbstverständlichkeit als Hamlet besetzt werden wie biodeutsche, ohne dass das Publikum es als besondere Inszenierungsidee auffasst.

Am letzten Wochenende wurde in vielen Reden und Beiträgen gefeiert, dass mit dem Gorki nun ein deutsches Theater endlich in der gesamtdeutschen Realität angekommen ist, auch mit einer Besetzungsliste, auf der sich die Mehrzahl der Namen nicht "deutsch" anhören.

Das Gorki ist ein Haus mit langer Geschichte. Es wurde 1827 als Sing-Akademie in der historischen Mitte Berlins gegründet, die preußische Finanzverwaltung residierte dort, 1848 tagte die preußische Nationalversammlung vor Ort. Nach 1945 wurde das im Krieg zerstörte Gebäude von der sowjetischen Militäradministration wieder aufgebaut und das Gorki-Theater als Ostberliner Stadttheater gegründet.

Ausstellungsraum

Gorki-Theater / Christiane Rösinger

Auch um diese lange Geschichte ging es letzten Samstag, als die neue Spielzeit mit einem "Ausstellungsparcours" eröffnet wurde. Im "Berliner Herbstsalon" im theater-nahen "Palais am Festungsgraben" stellten in einer "erweiterten Stadtbeschreibung" 30 Künstler, die mehrheitlich in Berlin leben, ihre Arbeiten aus. Es gab keinen gemeinsamen Nenner, keine eindeutige Botschaft, dafür 32 Performances, Installationen, Interventionen, die dazu einladen wollten, an diesem Ort Fragen zu Geschichte, Erinnerung und Identität nachzugehen.

Riesenkopf

Gorki-Theater / Christiane Rösinger

Auffällig war ein menschengroßer steinerner Kopf, der auf dem Boden herumtanzte und eindeutig die Züge Angela Merkels trug. "Uns geht es gut", "gut geht es uns", wiederholte unablässig flüsternd eine Stimme aus dem Inneren des Riesenkopfes.

Die Künstleraktivisten von Bankleer haben Frau Merkel noch zwei Köpfe zur Seite gelegt – nach deren Identität muss man allerdings im Ausstellungsheft forschen. Es ist Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, und Dutty Boukman, ein Pionier der Haitianischen Revolution von 1791. Mit "Sleepy Hollows" thematisiert das Künstlerduo die Auswirkungen der heutigen Finanzsysteme auf unsere Lebensumstände. Dass manchem Besucher Leben und Wirken des haitianischen Revolutionärs bislang unbekannt war, wird dabei mitgedacht, soll es doch darum gehen, mit der Ausstellung den Besucher an die Grenzen seines historischen Wissens zu führen.

Langer Teppich

Gorki-Theater / Christiane Rösinger

Das ist allerdings mitunter ein bisschen anstrengend, denn in manchen "Assosoziationsräumen" bleibt die Inspiration und Assoziation ganz aus, alles muss man sich selbst erarbeiten und nur wenige der Kunstwerke erklären sich selbst, so wie die Installation von Nevin Aladag: Sie hat einen unverhältnismäßig langen Teppich vom Fenster des Palais hinunter auf die Straße gerollt. Die strenge und vertikale Gestalt der neoklassizistischen Fassade wird durch das orientalische Muster und die diagonale Ausrichtung des Teppichs gestört, oder je nach Sichtweise auch verschönert oder aufgelockert.

Azin Feizabadi, in Teheran geboren und in Berlin lebend, lässt in seiner Sound-Installation, die vom Balkon des Palais aus das Kastanienwäldchen davor beschallt, zur Melodie des klassischen Gebetsrufs Ausschnitte aus den Grundrechten der deutschen Verfassung singen.

Tische in Hakenkreuzanordnung

Gorki-Theater / Christiane Rösinger

In ersten Stock des Palais stehen in einem großen Raum nichts als lange Tische mit Bierflaschen und Partyabfall, fast vermutet man, es wären unaufgeräumte Reste der Premierenfeier vom Tag zuvor - dass die Tische in Hakenkreuzform angeordnet sind, erkennt man erst auf den zweiten Blick. "Gott liebt die Serben – Balkan Banquet" ist der Titel der Installation, in der sich der Belgrader Künstler Rasa Todosijevic mit Symbolen und ihren unsteten Bedeutungen beschäftigt.

Und die israelische Regisseurin Yael Ronen lässt den Schauspieler Nils Bormann vor der Neuen Wache, einer Gedenkstätte in der Nähe des Theaters, fortwährend Entschuldigungen an Passanten, meinst TouristInnen aus verschiedenen Teilen der Erde, richten. Natürlich geht es dabei um die Last nationaler Schuld für das Individuum, wie es ja bei allen Stationen des Parcours um den Nationenbegriff, Identität und Migration geht, jene Themen, die die Intendantin von nun an in den Bühnenstücken behandelt.

Theater gespielt wird im Gorki-Theater ab dem 15. November wieder. Die erste Inszenierung unter der neuen Intendanz kommt ganz klassisch daher: Tschechows "Kirschgarten" erarbeitet von Nurkan Erpulat.