Erstellt am: 15. 11. 2013 - 17:39 Uhr
Wie ein erlösender Systemabsturz
Tipp
Das ganze Album gibt's auf YouTube im Stream.
Matangi, so heißt nicht nur die Hindu-Göttin der Musik, sondern auch M.I.A.s neues, insgesamt viertes Album, in dem sie wieder die Trash-Pantheons nicht-westlicher elektronischer Musik streift. Vor manchen Tracks haucht sie ein "Aum" oder lässt ein Glöckchen klingen. Happy Hardcore-Brutalitäten treffen auf Trap, treffen auf Dupstep, Dancehall, Bhangragga.
mia
M.I.A. braucht keine Review
M.I.A. ist ein derart eigenständiger, von medialen Filtern und Schablonen ungebrochener, stattdessen mit ihnen arbeitender Charakter, dass es keine Reviewer braucht. Ihre Arbeiten sind total direkt und unmittelbar. Rezensionen ihrer Alben wirken oft mehr wie Selbstdarstellungen und politische Positionierungen als eine Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit. Kindergarten-Popdiskurse, die Fragen wie: "Wie kann man politisch sein, gleichzeitig eine Kollektion für Versace machen und Pommes mit Trüffelöl essen?" brauche ich so dringend wie die Beulenpest (Obwohl mir Werbungen für Bier, in denen M.I.A. erklärt, Flaschenetiketten zu designen sei ein revolutionärer Akt und Fotos wie das folgende natürlich auch ANGST! machen).
mia
M.I.A ist ein Kind dieser Zeit, das in der Lage ist, das Jetzt ästhetisch und inhaltlich zu reflektieren. Vielleicht wird sie dadurch auch schon politisch, in einer Zeit der Senilität von Pop-Inszenierungen, in der 20-Jährige agieren wie verzweifelte 50-Jährige und Miley Cyrus ihr Kostüm und ihren Habitus sich von Madonna ausgeborgt haben könnte und umgekehrt. Pop-Zombies, wohin man blickt.
Es ist eine Zeit, in der dem hunderttausendsten, dem Disney-Club entwachsenen Klon seit einer gefühlten Million Jahren nichts anderes einfällt, als jedem, der es sehen will oder nicht, die Muschi ins Gesicht zu halten. Wenn dadurch tatsächlich immer noch Aufmerksamkeit generiert werden kann, versuchterweise Identitätsmodelle diskutiert werden und Briefe geschrieben werden usw. usf., dann kommt M.I.A daher wie ein erlösender Systemabsturz.
mia
Bei M.I.A. habe ich sehr stark das Gefühl, die Hoffnung, den Verdacht, dass sie im Hier und Jetzt ist. Sie hat eine eigene, stotternde, digital zerhackte, von Glitches unterbrochene Sprache gefunden, um die Ungeheuerlichkeiten zu thematisieren, die als Normalität getarnt jeden Tag auf uns losgelassen werden.
Ein M.I.A.-Track ist im besten Fall wie ein musikalischer Newsfeed aus dem Schlafzimmerstudio einer denkenden und agierenden Person, die sich weigert, den War on Terror, die NSA-Aktivitäten, die Kriege der USA und all die damit verbundenen Menschen- und Völkerrechtsverletzungen als unangenehme Normalität akzeptieren, mit der man sich einrichten muss.
M.I.A reagiert schnell, ein Album in CD-Form ist ein unbrauchbares Format für ihre Arbeit. Ihre Tracks sind so am Punkt der Zeit, dass sie veröffentlicht werden müssen, wenn sie fertig sind, die Visuals und die Schlagzeilen des Tages gehören dazu.
Über ein Jahr dauerte der Streit zwischen M.I.A. und ihrer Plattenfirma um ihr neues Album, immer wieder hat M.I.A im Laufe des letzen Jahres selbst Tracks geleakt. Was sie groß macht, sind ihre gratis Mixtapes wie "Piracy funds Terrorism" oder Vicki Leekx . Ein Mixtape ist eine viel passenderes Medium für ihre Art von Sound, wo ständig etwas von draußen reinkommt und referenzielle Klänge wie Apple-Sounds, Sirenen etc. als ein Track zueinander in Bezug gesetzt werden.
Und wenn wir jetzt vielleicht versucht sind zu motzen: "Matangi", das Album, ist fad, weil zu spät erschienen und vieles schon bekannt ist, dann muss ich vielleicht doch zu bedenken geben: An welchem Maßstab misst man M.I.A.? An sich selbst? Oder M.I.A. am Rest der Welt?
"Matangi" ist trotz allem in einer ganz eigenen Liga und viel spannender als das, was Figuren, die sonst in der Kategorie globaler Popstar agieren, so von sich lassen.
"Matangi" im Schnelldurchlauf
M.I.A. und ihr Producer Switch arbeiten mit dem, was Kids auf verschiedensten Kontinenten auf ihren Telefonen haben oder was auf Märkten aus den Boxen wummert, übersteuert, schrill und catchy. Einige Nummern des Albums sind bereits länger im Umlauf.
Oder "Bring the Noize", ein Bombardement. Public Enemy wären stolz auf sie, nicht nur wegen der Zeile "It's not me and you, it's the fucking banks".
Der Song "aTENTion" ist eine Zusammenarbeit mit Julian Assange und seinem Suchalgorithmus, es ist eine Herausforderung, mit dem Teil im Kopfhörer in der Stadt nicht überfahren zu werden, und es ist auch ein großartiger Track, um Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben. Eine sehr charmante Verbeugung vor dem Wu Tang Clan und ein schöner Grund, Julian Assange bei den Konzerten als Intro live aus der ecuadorianischen Botschaft über Freiheit und Rechte im Internet sprechen zu lassen.
YALA ist martialisch genug, die bösen Geister des pubertierenden US-Dub-Steps zu vertreiben und der Sprachprägung durch Vollkoffer wie Drake zu gebieten.
"Matangi" ist der Titeltrack. Die Hindu-Göttin der Musik, nach der M.I.A. seit neuestem benannt ist. Eine Kombination von M.I.A.s selbstgebastelter Pop-Spiritualität, die ein Konstrukt aus einem Cyberpunk-Roman sein könnte und hingerotzten Kampfslogans.