Standort: fm4.ORF.at / Meldung: ""Eine Zäsur der Entrechtung""

Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

9. 11. 2013 - 11:24

"Eine Zäsur der Entrechtung"

Die Pogrome im November 1938 markierten einen Übergang von der Diskriminierung der Juden im NS-Staat zu ihrer systematischen Verfolgung, die für Millionen von Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern endet.

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

Am 9. November 1938 nahm NS-Propagandaminister Joseph Goebbels das Attentat auf einen deutschen Diplomaten zum Vorwand, um die Gauleitern des Deutschen Reiches zu beauftragen, in ihren Zuständigkeitsbereichen gewalttätige Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen zu organisieren. Durchgeführt wurden sie hauptsächlich von Mitgliedern der SS, der SA und der Hitlerjugend, allerdings in Zivil, um den Eindruck zu vermitteln, es handle sich um eine spontane Aktion der Bevölkerung. Die Gauleiter interpretierten den Auftragallerdings unterschiedlich und so kam es, dass die Pogrome im Deutschen Reich unterschiedlich verlaufen.

Auf der Website des DÖW sind die Ereignisse der Pogromnacht inklusive historischer Dokumente für die österreichischen Bundesländer dargestellt.

In Österreich sind die Pogrome laut einigen Historikern, besonders schlimm gewesen. Am 10. November gegen 1:00 wurde in Graz die erste Synagoge in Brand gesteckt, in Innsbruck wurden drei Juden ermordet, ein vierter tödlich verletzt.. Die meisten Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen fanden aber in Wien statt, wo 1938 95% der österreichischen Juden gelebt haben, annähernd 140.000 Menschen.

dpa/dpaweb/dpa-Zentralbild/Z1020 Martin Schutt

Die SS begann in Wien in den frühen Morgenstunden des 10. November mit der systematischen Zerstörung der Synagogen und jüdischen Bethäuser. Rollkommandos drangen in die Synagogen eine, schändeten die Torarollen, schichteten sie mit zerstörtem Mobiliar zu Haufen und sprengten diese mit Handgranaten. Innerhalb von drei Stunden wurden so 42 Wiener Synagogen und Bethäuser zum Raub der Flammen. Die Feuerwehr hatte den Befehl nicht einzugreifen, sondern nur die Nebengebäude zu schützen.

Gleichzeitig zerstörten und plünderten Angehörige der SA tausende jüdische Geschäfte. Ganze Warenlager jüdischer Firmen wurden konfisziert. Die Polizei verhaftete an diesem Tag in Wien mehr als 6.500 meist wohlhabende Juden. Die Häftlinge wurden später der SS übergeben und schwerst misshandelt.

In den Tagen rund um den 9. November 2013 finden in ganz Österreich Gedenkveranstaltungen für die Pogromverbrechen statt, auf der Website des Parlaments sind sie gesammelt aufgelistet.

Einen Tag nach Anordnung der Pogrome, am 10. November um 16:00 befahl Reichspropagandaminister Goebbels die Übergriffe abzubrechen. Der Befehl blieb vorerst aber wirkungslos. Nicht zuletzt deshalb, weil NS-Angehörige die Gelegenheit nutzten und sich an jüdischem Eigentum
bereicherten. Erst nach fünf Tagen klangen die Pogrome in Wien aus. Der jüdischen Bevölkerung stand das Schlimmste aber erst bevor. Zwischen 1938 und 1945 wurden 65.000 österreichische Juden ermordet.

Tondokument

Der nationalsozialistische Journalist Eldon Walli hat am 10. November 1938 eine Reportage aus den Ruinen des Leopoldstädter Tempels gemacht, die vom Reichssender Wien ausgestrahlt worden ist. Hier ist dieses bedrückende Zeitdokument nachzuhören.

Die Novemberpogrome in ihrem Kontext

Die Historikerin Dr. Brigitte Bailer ist die wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Im FM4-Interview spricht sie über den Kontext, in dem die Pogrome stattgefunden haben.

APA/ HERBERT NEUBAUER

Wie würden sie den Weg zu den Pogromen beschreiben

Zumindest für Österreich war das Novemberpogrom Höhepunkt und Abschluss der ersten Phase der pogromartigen Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden, die mit dem März 1938 begonnen haben.

Also: die mit dem Anschluss begonnen haben.

Ja. Also schon unmittelbar vor dem Anschluss haben Ausschreitungen und Misshandlungen von Jüdinnen und Juden, auch erste wilde Beraubungen, stattgefunden. Die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung ging dann ab dem März 1938 Schlag auf Schlag und mit den Sitzungen nach den Novemberpogrom wurde dann auch die endgültige Ausschaltung der Jüdinnen und Juden auch aus dem Wirtschaftsleben beschlossen. Das heißt Juden durften keine Betriebe mehr führen, durften keine Betriebe mehr haben, wurden sofort gezwungen die herzugeben und zu Dumpingpreisen zu veräußern. Also es war hier eine Zäsur der Entrechtung, die dann schon wieder die Vorbereitung für die folgenden Vernichtung und Ermordungsschritte dargestellt hat.

In der Geschichtsschreibung wird öfters erwähnt, dass die Ausschreitungen in Österreich besonders heftig gewesen sind. Gibt es dafür eine Erklärung?

Die Ausschreitungen des Novemberpogroms waren von oben gesteuerte Aktionen der NSDAP und der SS. Hatten also mit der angeblichen Empörung der Bevölkerung fast nichts zu tun. Was wir selbstverständlich beobachten müssen ist das schweigende Zusehen der Bevölkerung, die sicher auch beim Anschlusspogrom ganz deutliche Zustimmung von Teilen der Bevölkerung für diese Verfolgungsmaßnahmen, aber die eigentlichen Zerstörungen der Bethäuser und Tempel, der jüdischen Geschäfte, waren von oben gesteuerte Aktionen der NSDAP und ihrer Gliederungen, also nicht direkt von der Bevölkerung kommend - die aber zugestimmt hat.

Wie schätzen sie denn die Bedeutung der Novemberpogrome im Zug der europäischen Judenvernichtung ein?

Die Judenvernichtung auf europäischer Ebene war ja dann erst durch die Besetzung Westeuropas und ab 1941 auch Osteuropas möglich geworden. Das Novemberpogrom 1938 war aber ein ganz ein wesentlicher Schritt dann zur endgültigen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, zur Ausgrenzung aus allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Lebensbereichen und damit ein erster Schritt hin von der kulturellen, gesellschaftlichen Ausgrenzung hin dann zur tatsächlichen Ermordung und Eliminierung der jüdischen Bevölkerung. Und das Novemberpogrom hat dann selbstverständlich noch einmal eine sehr große Fluchtwelle ausgelöst, weil selbst die, die gemeint haben, naja irgendwie wird das wieder vorbei gehen, dann erkannt haben jetzt hilft nur mehr laufen, so schnell wie möglich.