Erstellt am: 6. 11. 2013 - 20:58 Uhr
Der Komiker als Revolutionär
Ich habe den Eindruck, es hat sich schon nach Österreich durchgesprochen: Die Promo-Aktion des Komikers Russell Brand für die Herbst-Tournee seines aktuellen Programms Messiah Complex, die sich zu soviel mehr auswuchs als bloß ausverkauften Shows im ganzen Land, angefangen mit seinem Aufruf zur Revolution als Gastherausgeber der Wochenzeitung New Statesman (übrigens mit einem sehr lesenswerten Editorial), über seine Demontage des gefürchtet bissigen Newsnight-Interviewers Jeremy Paxman via den Gegenangriff des Komikerkollegen Robert Webb (der im Unterschied zum Systemverächter Brand das Wählen – und zwar für die Opposition Labour – sehr wohl für notwendig erachtet) bis hin zu Brands Konter im Interview mit dem ebenfalls als Schnelldenker bekannten Mehdi Hassan von der Huffington Post.
Das war jetzt ziemlich viel zum Durchklicken, und manches davon ist wie gesagt den meisten wohl auch schon bekannt.

bbc
Vielleicht haben aber noch nicht alle Russell Brands bisher besten Text zum Thema im heutigen Guardian gelesen, in dem er den offensichtlichen Schwachpunkt seiner bisherigen Argumentation, nämlich sein demonstrativ infantiles Bekenntnis zum Nichtwählen, in einen kollektiven aktivistischen Kontext stellt (ich komme noch darauf zurück).

public domain
Seine dazu vorgebrachten Thesen werden alten Überlebenden der Debatten pseudorevolutionärer Kinder des Bildungsbürgertums in den versifften, verrauchten Lokalen des zwanzigsten Jahrhunderts verdächtig bekannt vorkommen, aber so rechtmäßig lustig man sich die darauffolgenden Jahrzehnte hindurch darüber gemacht haben mag, so wenig kann es schaden, die immer gern denkfaul als uncool dargestellte, in Wahrheit aber bloß zu heiße Kastanie der Systemkritik wieder einmal mit spitzen Fingern zu fassen und zu testen, was passiert, wenn man ein bisschen fester zudrückt.
Und zwar diesmal – Ende der Kastanienmetapher – ohne die dogmatische Verbohrtheit, die einem damals im Weg stand (not naming names, sonst sind wir gleich wieder dort, wo wir beim letzten Mal stehen geblieben sind, während sich andere munter die Welt aufgeteilt haben).
"Wenn mehr junge Leute über Fracking als über Twerking reden, dann gehen wir in die richtige Richtung."
Nun ist Russell Brand gewiss kein Ché Guevara, aber er hat andere Qualitäten. Während andere Kalaschnikoffs schultern, ist seine Taktik eher die des Edlen Wilden (so ist er kostümiert), der die Bösewichte mittels Körpertäuschung und Selbstironie zu entwaffnen weiß. Ein Beispiel aus dem jüngsten Text zum Thema seiner eigenen (Dis)Qualifikation als Beschwerdeführer in privilegierter Position:
„Manche Leute sagen ich bin ein Heuchler, weil ich jetzt Geld habe. Als ich arm war und mich über Ungleichheit beschwerte, sagten die Leute ich sei verbittert. Jetzt, wo ich reich bin und mich über Ungleichheit beschwere, sagen sie ich bin ein Heuchler. Ich beginne mir zu denken, dass sie einfach das Thema Ungleichheit nicht auf dem Tapet haben wollen, weil es ein echtes Problem ist, das angegangen werden muss.“
Noch besser der Absatz zum Vorwurf des Mangels an einem machbaren Manifest:
„Wie ich [beim Newsnight-Interview] zu Paxman sagte: 'Ich kann jetzt nicht in diesem Hotelzimmer eine globale Utopie aus dem Hut zaubern.' Klarerweise ist das nicht mein Job und muss es auch nicht sein. Wir haben brillante Denker_innen und Organisationen, und niemand muss sich sein egalitäres Shangri-La im Alleingang aufkochen; Wir können es alle zusammen tun.“
Ein bisschen konkreter wird er ein paar Absätze weiter unten:
„Glücklicherweise muss ich dank Organisationen wie [UK Uncut], Occupy, Anonymous und The People's Assembly keine Ideen liefern. Wir können uns alle beteiligen. Ich bin froh, ein Teil der Konversation zu sein. Wenn mehr junge Leute über Fracking als über Twerking reden, dann gehen wir in die richtige Richtung. Die Leute, die uns regieren, wollen nicht eine aktive Bevölkerung, die sich politisch engagiert, sie wollen passive Konsument_innen, die sich von dem Spektakel ablenken lassen, dessen Teil ich zugegebenermaßen selbst bin.“
An diesem Punkt wird’s natürlich spannend, denn während Russell Brand für seinen Text heute im Guardian die Titelseite erntete, war nirgends in den Medien auch nur ein Mückschen über den gestrigen Marsch auf Westminster gegen die schleichende Privatisierung des nationalen Gesundheitssystems (NHS) zu hören.
Es braucht angesichts dieses Medien-Blackouts also sowohl die Intervention eines Medienkaspers wie Brand als auch seinen konkreten Verweis auf vorhandene Pressure Groups, um für diese Öffentlichkeit zu erzeugen.

public domain
Und dieses Thema ist wohl auch eines der schlagendsten Argumente für Brands Geste, sich außerhalb des parlamentarischen Systems zu stellen, denn ebenjene vom gestrigen Protest in London kritisierte, schleichende Privatisierung des Gesundheitssystems begann schon unter Margaret Thatcher mit der Einführung des internen Markts, wurde von der letzten Labour-Administration eifrig fortgeführt und wird jetzt in ihrer von den Tories betriebenen letzten Konsequenz auch noch von den Libdems mitgetragen – alles zum Nutzen rechtzeitig aus dem Boden geschossener privater Anbieter, die ihre Finger in der Finanzierung aller drei Unterhaus-Fraktionen haben.

public domain
*'Ah', werden da welche sagen, 'aber haben die Tories nicht 36 Prozent der Stimmen erlangt?' Schon, aber eben nur 36 Prozent von den verbleibenden 65 Prozent, die gewählt haben).
Es sind gerade Themen wie dieses, die meilenweit nach korrumpierten Interessen der Volksvertreter_innen stinken und so zum Zusammenbruch des Vertrauens in die repräsentative Demokratie beitragen. Das Problem ist schließlich nicht, dass ein Komiker sich zum Nichtwählen bekennt, sondern dass er damit für die mit 35 Prozent insgesamt größte Fraktion im britischen Wahlvolk spricht.*
Nicht alle davon sind nur Deppen, auch wenn sie zur Bezeugung dessen zumindest an der Ausdrucksform ihres Protests arbeiten könnten (Stimmzettel durchstreichen zum Beispiel).
Wenn nun sein Interviewer Jeremy Paxman, der sich selbst – zu unrecht – gern als Stachel im Sitzfleisch des Establishments sieht, etwas panisch um Credibility rudert und den Zuschauer_innen ein paar Tage später in der biederen Programmzeitung Radio Times mitteilt, dass er vor lauter Abscheu gegen das politische Establishment eh auch schon einmal nicht gewählt habe, dann hat Russell Brand eigentlich bereits gewonnen.
Beeindruckt ist aber fürs erste einmal niemand von Paxmans Patrizier-Punk. Schließlich erzählt uns seine BBC tagein tagaus im Einklang mit der Regierung vom Aufschwung. Dabei gibt laut einer heute erschienenen Meinungsumfrage von YouGov nur das sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung an, von diesem Aufschwung „a lot“ profitiert zu haben (14 Prozent ein bisschen).

Robert Rotifer
Dem Rest brauchen die Schönredner_innen erst gar keinen Schmus erzählen, selbst wenn die Mehrfachteilzeitjobmindestlohnlangstreckenpendler_innen-Armee zu müde zum Protestieren und zu desorganisiert zum Streiken bzw. die Studierenden von ihren 9000 Pfund Studiengebühren pro Jahr zum Demonstrieren zu verschreckt sind.
Russell Brand in Wien: am 19. März 2014 im Gartenbaukino. Mehr Infos gibt es hier.
Andererseits: Wie vielleicht schon gestern New York gezeigt hat, dürfen nicht ganz vernagelte Politiker_innen diesen Grad an Desillusionierung auch durchaus als Chance begreifen. Russell Brand wird nämlich auch bei der nächsten Wahl nicht kandidieren.