Erstellt am: 1. 11. 2013 - 14:59 Uhr
Arbeit ohne Lohn
Radiotipp
Freitag abend im FM4 Jugendzimmer (19:00 - 20:30): FM4 Jugendzimmer aus Athen. Nach der Sendung 7 Tage on demand zum Nachhören
In Griechenland muss ein großer Teil der Angestellten im privaten Sektor mit erheblichen finanziellen Einbußen leben, weil viele Gehälter entweder gar nicht oder nicht vollständig bezahlt werden. Das Arbeitsinstitut des größten Gewerkschaftsverbandes für den Privatsektor (INE-GSEE) schätzt, dass mehr als zwei Drittel der Angestellten seit mehr als drei Monaten auf ihr Gehalt warten. Trotzdem gehen Journalisten, Krankenschwestern, Ärzte und Verkäufer weiterhin zur Arbeit – aus Angst, sonst ins Bodenlose zu stürzen, aus Verantwortungsbewusstsein oder aus der schlichten Überzeugung, den eigenen Arbeitsplatz verteidigen zu müssen.
Die Ärztin Natasa Koutsouri ist eine von denen, die "trotzdem weitermachen". Sie leitet die ambulante Station des Henry Dunant-Krankenhauses. Natasa und ihre Kollegen arbeiten schon seit mehr als zehn Monaten ohne Bezahlung. "Man kann nicht einfach so aufgeben. Ich weiß nicht, ob ich übertreibe, aber wenn man sich an seinem Arbeitsplatz eigentlich wohlfühlt und weiß, wie viel man in der Vergangenheit hier geleistet hat, dann muss man einfach weitermachen. In diesem Krankenhaus steckt ein Stück von jedem von uns. Außerdem ist es so, dass wenn man kündigt und woanders hingeht, das nicht bedeuten muss, dass man dort bezahlt wird."
Dunant Krankenhaus Athen
Seit elf Jahren arbeitet die 46-Jährige im Henry-Dunand-Krankenhaus, einer Privatklinik mit gemeinnützigem Charakter; nebenher hat sie noch eine eigene Praxis. Seit Ausbruch der Krise hat sich die Zahl der Patienten drastisch verringert, viele können sich private Krankenversorgung nicht mehr leisten. "Manche Patienten sind traurig, wenn sie sehen, dass wir immer weniger Arbeit haben und die Klinik zusehends verfällt. Wenn sie es irgendwie einrichten können, kommen sie weiterhin – auch wenn wir ihnen sagen, dass sie auch andere Krankenhäuser aufsuchen können", so Koutsouri.
Das Henry Dunant-Krankenhaus ist eigentlich ein hochmodernes Krankenhaus. Es wurde im Jahr 2000 errichtet – finanziert vom Roten Kreuz. Mehr als tausend Menschen arbeiten hier. Dass die Angestellten keinen Lohn mehr bekommen, hat einerseits mit der Verschuldung der Klinik aber auch mit der sinkenden Patientenzahl zu tun, sagt Koutsouri. "Man hat Kredite aufgenommen, die Verwaltung war ineffizient, das hat zu Schulden geführt. Und die Banken sind nicht mehr bereit, das Krankenhaus zu finanzieren: wir befinden uns in einer Art Sackgasse".
Solange die Regierung nach alternativen Finanzquellen sucht, werden die laufenden Einnahmen verwendet, um die Sicherheit der PatientInnen zu gewährleisten. Natasa Koutsouri verzichtet wie ihre Kolleginnen weitgehend auf ihr Gehalt, ohne zu protestieren, damit das Krankenhaus überhaupt noch funktioniert. "Wir fühlen uns wie arbeitende Arbeitslose", sagt sie, "es ist ein merkwürdiges Gefühl. Neuerdings freuen wir uns, wenn wir ab und zu einen Teil unseres Gehalts bekommen. Wir schätzen das viel mehr als noch vor ein paar Jahren, als wir dachten, wir hätten Anrecht auf Gehalt und es wäre etwas Sicheres".
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Auch der Journalist Nikos Korovilas arbeitet derzeit unbezahlt. Er ist Redakteur der Sportzeitung Protaflitis und war bis vor kurzem auch beim griechischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERT beschäftigt, der Anfang Juni per Regierungserlass von einem Tag auf den anderen stillgelegt wurde. Ein Teil der ehemaligen ERT-Mitarbeiter besetzt seitdem das ERT-Gebäude und sendet via Internetstream ein Protest-Programm. Alle Journalisten hier arbeiten ohne Lohn, auch Nikos Korovilas. Seit vier Monaten schläft er fast jede Nacht an seinem ehemaligen Arbeitsplatz. "Es geht um die Demokratie. Wir haben bis jetzt noch keine Nachricht verpasst. Es gibt viel Arbeit und viel Eifer. Ich bin 18 bis 20 Stunden täglich hier", sagt er voller Entschlossenheit.
Auch von der Sportzeitung erhält Nikos Korovilas seit sieben Monaten keinen Lohn mehr. Kein Wunder, dass er trotz der Abfindung, die er von ERT bekommen hat, Geldprobleme hat. "Viele von uns sind in dieser Situation gefangen. Es gibt in der Zeitung ältere Kollegen, die nicht entlassen werden können, weil die Summe der Abfindung und ausstehenden Gehälter sehr hoch ist. Die letzten, die entlassen worden sind, haben indirekt wir bezahlt. Wir haben kein Geld bekommen, damit sie ihre Entschädigung kriegen." Korovilas will weitermachen und für beide Jobs kämpfen. "Meiner Frau sage ich, es ist wie im Krieg, ich gehe an die Front, und wenn ich frei habe, komme ich nach Hause. So ist es. Es geht nicht anders. Wenn es ein Kampf ist, dann muss man kämpfen".
Nicht nur Nikos Korovilas und Natasa Koutsouri kämpfen um ihren Arbeitsplatz. Die Aussichten am griechischen Arbeitsmarkt sind insgesamt düster. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast 28 Prozent, das Arbeitsinstitut des größten Gewerkschaftsverbandes für den Privatsektor (INE-GSEE) schätzt, dass sie bis 2016 auf 34 Prozent steigen wird. Wegen der Sparprogramme der vergangenen vier Jahre hätten die griechischen Arbeitnehmer rund 41 Milliarde Euro an Einkommen verloren, und die Kaufkraft sei auf das Niveau von vor 14 Jahren zurückgefallen. Vermutlich wird es zwei Jahrzehnte dauern, bis die Arbeitslosenquote in Griechenland wieder im einstelligen Bereich liegt.
ANA-MPA/Alexandros Vlachos
Der alltägliche Kampf in der Krise geht an die Substanz. Natasa Koutsouri und ihre Familie kommen nur deshalb über die Runden, weil ihr Mann als Arzt in einem öffentlichen Krankenhaus arbeitet und seinen Lohn rechtzeitig bekommt. Viele KollegInnen haben aufgegeben und ihr Glück im Ausland gesucht. "Um ehrlich zu sein, ich schaue mir manchmal die Arbeitsangebote aus Ländern an, deren Sprache ich spreche. Falls etwas passiert, sind wir bereit auszuwandern, damit wir überleben können. Und ich meine Überleben nicht nur wirtschaftlich, sondern auch wissenschaftlich, weil wir als Ärzte nicht aufhören können, unseren Beruf auszuüben.”
Freitag auf FM4: FM4 Jugendzimmer aus Athen
Claus Pirschner fragt junge Athener, wie sie durch die Krise kommen. 65 % der Jugendlichen haben keinen Job, ein junger antirassistischer Rapper wurde kürzlich von einem Anhänger der Neonazipartei "Goldene Morgenröte" ermordet, neben Demonstrationen und Streiks erfasst die Menschen zusehends die Depression.
"Wir sind das Versuchskaninchen von Europa. Was uns die Troika aufzwingt, kann auch in andern Ländern geschehen.", sagte Christos Sideris vor einem Jahr im ersten FM4 Jugendzimmer aus Athen. Christos hat in der Krise die erste Sozialklinik mitinitiiert, wo ÄrztInnen Menschen medizinisch helfen, die keine Krankenversicherung mehr haben oder sich den hohen Selbstbehalt nicht leisten. Er hat von unterernährten Babys erzählt und öffentlichen Krankenhäusern, denen die Sozialklinik Nahrungsergänzungsmittel spendet, weil sie dort fehlen.
Ebenso im damaligen FM4 Jugendzimmer zu Gast war die junge Journalistin Fenia Chala. Sie hat damals unermüdlich ausländische Journalisten auf die neuen Solidarprojekte in der griechischen Gesellschaft, wie beispielsweise die Sozialklinik, hingewiesen. In einem Viertel haben sich Menschen gegen den aufkommenden Rassismus in der Krise zusammengeschlossen, im anderen organisieren Menschen Lebensmittel für mittellos gewordene Nachbarn. "Es geht um die neu aufgekommene Solidarität unter den Menschen, wie sie trotz allem versuchen, das Leben zu meistern", war Fenia überzeugt.
Wie ist es Fenia und Christos im letzten Jahr ergangen und was ist ihr Blick auf die aktuellen Entwicklungen? Antworten darauf gibt es im zweiten FM4 Jugendzimmer Spezial aus Athen. Freitag abend von 19:00 - 20:30 auf FM4 und danach 7 Tage on demand.