Erstellt am: 30. 10. 2013 - 16:44 Uhr
Occupy Uni Sofia
FM4 Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Jeden Mittwoch online auf diesen Seiten, on air in FM4 Connected und on demand als Podcast. Die gesammelten Kolumnen gibt es seit kurzem auch als Buch.
„Was machst du heute?“, fragte ich meine liebe M. in unserem täglichen Skype-Gespräch „Wien – Sofia“. „Ich gehe zuerst ins Gericht arbeiten, dann muss ich zum Zahnarzt und am Abend gehe ich protestieren.“ Seit einigen Monaten sind die Proteste ein untrennbarer Teil von M.s Alltag. Mindestens eine Stunde am Tag ist sie auf dem Platz vor dem Parlament und verlangt den Rücktritt der bulgarischen Regierung. Der konkrete Grund für den Beginn der Proteste war die Ernennung des umstrittenen Medienmoguls und Parlamentsabgeordneten Deljan Peevski zum Chef der bulgarischen Agentur für nationale Sicherheit. Dann bekam die Regierung Angst vor der Reaktion der Straße und zog die Ernennung von Peevski zurück. Die Proteste gingen aber weiter. Die Menschen protestierten jetzt gegen die unmoralische und absurde Koalition von ehemaligen Kommunisten, die korrupte Partei der bulgarischen Türken und Ultranationalisten und ihr prinzipienloses Handeln.
Aussitzen funktioniert nicht
Am Anfang machten mehrere Tausende bei den Protesten mit. Mit der Zeit aber wurden die Menschen müde davon, zu schreien und nicht gehört zu werden. Immer weniger Leute kamen täglich vor das Parlament. Die Taktik der Regierung, die sich nach dem bulgarischen Sprichwort „Lass die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“ richtete, schien funktioniert zu haben. Bis zur letzten Woche. Dann begannen die wiedererstarkten Proteste von Neuem. Eine Gruppe von Studenten okkupierte das größte Auditorium der Uni Sofia während einer Vorlesung des Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Dieser hatte in seiner Funktion als Verfassungsrichter durchgesetzt, dass Deljan Peevski nach seinem gescheiterten Ausflug in die Agentur für nationale Sicherheit, der Auslöser für die ursprünglichen Proteste, wieder auf seinen Parlamentssitz zurückkehren konnte, in eine Position, die ihm juristische Immunität zusichert. Die Studenten verlangten eine Erklärung von ihrem Professor für sein Handeln. Anstatt sie zu geben, verließ der Vorsitzende des Verfassungsgerichtes erschrocken und schuldbewusst so schnell wie möglich die Uni.
EPA
Die Flucht vor der Verantwortung brachte die Studenten dazu, das ganze Gebäude zu okkupieren. Jeden Tag wird der Studentenprotest von weiteren Hochschulen unterstützt. Die Film- und Theaterakademie, die Wirtschaftsuniversität und noch einige Unis im ganzen Land wurden ebenso besetzt. Viele der Professoren unterstützen die Studenten. Die bulgarischen Studenten in Österreich zeigen auch ihre Solidarität mit ihren Kollegen in Sofia. Gestern versammelten sich in einer spontanen Aktion bulgarische Studenten vor der Universität Wien um das Lied „Върви, народе възродени“ („Steh auf, wiedergeborenes Volk“) zu singen. Dieses Lied entstand im späten 19. Jahrhundert, als Bulgarien seine politische Unabhängigkeit gerade errungen hatte. Im Lied singt man über das „wiedergeborene Volk“, das sich geistig mit Hilfe des Wissens abhebt. Das Lied ist eine Hymne der Bildung und des Wissens. Die gebildeten Menschen in Bulgarien fordern Ehrlichkeit und Moral in der Politik.
Das düstere oligarchische Modell des Postkommunismus fängt langsam an, zu zerbrechen. Wird es irgendwann endgültig kollabieren? Meine liebe M. glaubt fest daran. Und ich glaube an sie. Ich weiß, dass es naiv erscheinen mag, aber was bleibt uns, wenn wir an die Moral und an die Liebe nicht mehr glauben?
Deshalb: „Steh auf, wiedergeborenes Volk“! Falls ihr eine Gruppe von jungen Menschen seht, die vor der Uni in einer unbekannten Sprache etwas singen, dann wisst ihr jetzt, wer sie sind.