Erstellt am: 28. 10. 2013 - 17:24 Uhr
Das Monster der 70er
„Angesichts des in den vergangen zweieinhalb Jahrzehnten angesammelten Wissens über den Weißen Hai bin ich mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass ich mein Buch heute unmöglich so schreiben könnte - jedenfalls nicht mit gutem Gewissen.“, schrieb Peter Benchley im April 2000 im National Geographic. 1974 veröffentlicht der damals vierunddreißigjährige Journalist seinen ersten Roman. Die erfundene Geschichte eines monströsen, menschenfressenden weißen Hais, der den fiktiven amerikanischen Ferienort Amity tyrannisiert, schlug eine Bresche ins Bewusstsein ihrer Rezipienten. Das Buch war ein Bestseller und verkaufte sich zwanzig Millionen Mal, die spätere Verfilmung von Steven Spielberg war bis zu „Krieg der Sterne“ der weltweit kommerziell erfolgreichste Film. In unserer Wahrnehmung waren Haie fortan berechnende, dämonische Killer, die bevorzugt Menschen auf ihrer Speisekarte haben.
Ein Spiegelbild seiner Zeit
Milena-Verlag
Peter Benchleys Roman ist im Vergleich zu seiner cineastischen Umsetzung thematisch breiter angelegt. Die Handlung spielt im Amerika Anfang bis Mitte der siebziger Jahre: Die Ölkrise, der Vietnamkrieg und Nixons Watergate-Affäre sind allgegenwärtige Themen. Die Arbeitslosigkeit steigt, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist erschüttert, soziale und ethnische Gruppen streben nach mehr Autonomie. In Benchleys Roman spiegeln sich die Verhältnisse seiner Zeit im Ferienort Amity wider: Der Bürgermeister ist in dubiose Mafiageschäfte verwickelt und versucht die Todesopfer der Haiattacken anfangs noch zu vertuschen, denn Amity ist durch die Haiangriffe in seiner ökonomischen Existenz bedroht.
Im Gegensatz zum Film beschäftigt sich der Roman sehr ausgiebig mit der problematischen Beziehung zwischen der Hauptfigur, dem Polizeichef Martin Brody, und seiner Frau Ellen, die eines Tages aufwacht und daran zweifelt, dass ihr Leben als Hausfrau und Mutter in einer Kleinstadt das Leben ist, das sie immer wollte. Sie sehnt sich nach Anerkennung und Selbstbestimmung.
Ein wasserscheuer Held
Der konservative Polizeichef ist der unfreiwillige und wasserscheue Held der Geschichte. Mit dem Auftauchen des Hais in der Kleinstadt verändert sich sein Leben grundlegend. Seine Frau beginnt in Sehnsucht nach einem besseren Leben eine Affäre mit dem reichen und attraktiven Meeresbiologen Hooper, der auf Grund der Angriffe in die Stadt kommt. Brody lässt sich vom Bürgermeister dazu nötigen, den ersten Haiangriff geheim und die Strände offen zu halten, was zu einem weiteren Todesopfer führt, für das sich der Polizist verantwortlich fühlt. Der Hai scheint verantwortlich für all seine Probleme. Derart in die Enge getrieben, entschließt sich Brody das Tier gemeinsam mit Hooper und dem abgebrühten Seemann Quint, ein moderner Captain Ahab, zu jagen.
Das Gesicht unserer Ängste
Am 28.10. liest Fritz Ostermayer aus "Der weiße Hai" in der Thalia Filiale in der Landstraßer Haupstraße 2a in Wien. Musikalische Begleitung von Sain Mus. Beginn: 19:00, Eintritt frei.
Benchley hat die verschiedenen im Buch beschriebenen Haiattacken nicht erfunden. Allerdings fanden diese zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Haien verübt statt und “nicht aus den von mir behaupteten Gründen oder mit den von mir ausgedachten Auswirkungen.“ Das machte aus „Der weiße Hai“ auch eine atmosphärische Horrorgeschichte über ein berechnendes Ungeheuer, die geschickt mit den Ur- Ängsten seiner Leser spielt. Die Angst vor dem Unbekannten, vor den Dingen unter der Oberfläche, Peter Benchley hat ihnen ein Gesicht mit spitzen Zähnen gegeben.
Es passiert selten, dass fiktive Geschichten unsere Wahrnehmung von Realität in diesem Ausmaß verändern. Seit dem bahnbrechenden Erfolg von „Der weiße Hai“, als Buch und Film, hat sich ein verfälschtes Bild von Haien als etwas generisch Böses und Gefährliches in unserem Bewusstsein verankert. „Seit hunderten von Generationen haben wir Menschen gelernt Haie zu fürchten und zu hassen, und der Film berührte hier einen Nerv und zehrte von diesem Horror.“ (Benchley 2005), etwas, wogegen er sein Leben lang ankämpfte. Benchley produzierte nach seinem Romanerfolg mehrere Dokumentationen, schrieb Sachbücher und verfasste regelmäßig Artikel im National Geographic, in denen er sich für den Artenschutz der Haie einsetzte.
Mehr Buchempfehlungen gibt's hier.
„Der weiße Hai“ ist in einer neuen Übersetzung von Vanessa Wieser im Milena-Verlag erschienen. Der Roman ist nicht nur eine Horror-Geschichte über einen Hai, sondern auch ein Stück Kulturgeschichte.