Erstellt am: 3. 11. 2013 - 13:28 Uhr
Flimmern
fm4.ORF.at/flimmern
Der assoziative Wochenrückblick von Natalie Brunner
In der Nacht vom 25. Oktober zogen Polizisten ihre Waffen gegen 2 Menschen, die bei einer Wiener S-Bahnunterführung Farbe auf eine Lärmschutzwand auftrugen. Das unbefugte Auftragen von Farbe auf Wände, die einem nicht gehören, ist Sachbeschädigung, und die gegenwärtig vielleicht wichtigste künstlerische Interventionsform im öffentlichen Raum.
Sachbeschädigung – wie die erwähnte – ist ein Delikt, das anscheinend von Polizeibeamten als so gefährlich erachtet wird, dass sie zu schießen beginnen, als die beiden Maler die Ordnungshüter bemerken und flüchten. Der Chef der Polizei-Pressestelle Johann Golob meint, dass das Abgeben von Schüssen durch die Beamten rechtlich gedeckt ist.
Der Chef der Polizei-Pressestelle spricht von einem Schreckschuss. Laut Duden ist ein Schreckschuss ein Schuss in die Luft, durch den jemand erschreckt werden soll. Es gibt auch Schreckschuss-Pistolen – diese feuern nicht mit echter Munition. Die erwähnten Polizisten feuerten mit echter Munition.
Neben Schreckschüssen kennt der Duden auch "Warnschüsse", die
folgendermaßen definiert sind: "in die Luft abgegebener Schuss, durch den einer Aufforderung, einer Drohung Nachdruck verliehen werden soll".
Was unterscheidet einen Schreckschuss von einem Warnschuss? Die Drohung. Und was ist die Drohung, der Nachdruck verliehen werden soll? Und wie weiß man als Flüchtender, der gerade das Delikt begangen hat, Farbe auf eine Wand aufzutragen, ob es sich um einen Schreckschuss oder einen Warnschuss handelt und ob die Drohung in weiterer Folge nicht wahr gemacht wird?
Einer der beiden Menschen, die in der Nacht des 25. Farbe auf eine Wand auftrugen, blieb ebenfalls stehen; vermutlich aus Todesangst. Er ist 17 Jahre alt und Graffiti-Maler. Die Beamten konnten eine Lackdose und zwei Fläschchen mit refillable Marker sicherstellen.
polizei
Am 6. August 2013 schoss die US-Polizei mit einer Elektroschockpistole auf den flüchtenden Graffiti-Künstler Israel Hernández-Llach. Der 18-Jährige war beim Malen überrascht worden. Im Arrest zeigte er Zeichen von Unwohlsein. Kurz darauf war er tot.
Die BBC zitiert anwesende Freunde von Hernández-Llach, die berichten, dass die Polizisten einander High Fives gegeben und Witze gerissen hätten, als der Teenager am Boden lag.
reuters
Beim 18-jährigen Israel Hernández-Llach handelte es sich um einen Bildhauer, Maler, Photograph und Autor, dessen Arbeiten bei der Kunstmesse Art Basel ausgestellt worden waren. Die Art Basel ist eine der wichtigsten Kunstmessen der Welt.
Auf der Art Basel wurden im Jahr 2010 Werke von Basquiat für 38,4 Millionen Dollar verkauft. Jean Michel Basquiat malte in New York 1977 bis 1980 auch auf Wände, die ihm nicht gehörten. Damals war Graffiti noch nicht als gefährliches Verbrechen definiert, das Städte in die Verwahrlosung treibt und andere gesellschaftszersetzende Verbrechen zur Folge hat. Diese Ideologie kam erst ab 1982 durch die "Broken Windows"-Theorie des Manhattan Institutes for Policy Research auf, die in weiterer Folge zur Grundlage der "Zero Tolerance"-Sicherheitspolitik werden sollte.
Basquiat, dessen Vater Haitianer war, ist der erste schwarze Künstler, der den Durchbruch in der weiß dominierten internationalen Kunstwelt schaffte. Seine Bilder sind komplex kodierte Werke, die unter anderem eine eigene Geschichtsschreibung gegen die Nicht- oder Fremd-Repräsentation in der Geschichte zu setzen versuchen.
cc
Eine Figur, die immer wieder in Basquiats Werken auftaucht, ist Toussaint Louverture. Der "schwarze Napoleon", manchmal auch "schwarze George Washington" Louverture war ein freigelassener Sklave, der als Feldherr und Politiker Geschichte schrieb, als er die französische Kolonie Haiti in die Unabhängigkeit führte – was in weiter Folge die Gründung des ersten freien schwarzen Staates und die Abschaffung der Sklaverei ermöglichte.
In Wien ist gerade eine Ausstellung jener Bilder zu sehen, die Basquiat mit Andy Warhol gemacht hat. Im Pressetext wird von der
"unmittelbaren Wildheit" Basquiats im Gegensatz zu Warhols konzentrierter emblematischer Handschrift gesprochen.
Dass "unmittelbare Wildheit" nicht die Grenze des Ausdrucks von Menschen schwarzer Hautfarbe mit äußerst beschränkten Ressourcen ist, sondern mehr und komplexeres kommunizieren kann, beweist beispielsweise die bevorstehende "Ghetto"-Biennale auf eindrucksvolle Weise. Diese findet diesen Dezember zum dritten Mal in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince statt und zeigt eine beeindruckende Bandbreite künstlerischer Strategien und Positionen.