Erstellt am: 27. 10. 2013 - 16:58 Uhr
Lass die Sonne rein
- Alle Songs zum Sonntag auf FM4
- Auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar macht sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song seine Gedanken.
Muss man sich etwa Sorgen um Pieter Gabriel machen? Verbringt er ganze Jahre unter der Bettdecke, hat die Depression durch seinen Schädel spuken? Hört man die Musik des neuen Projekts des Wiener Musikers, fällt es leicht sich auszumalen, wie die Melancholie und die Schwermut im Körper dieses jungen Mannes ihr träges Spiel treiben. Pieter Gabriel weiß aber auch, dass graugefärbte Eigenbrötlerei und die Pose des Schmerzensmannes alleine nur blasse Kunst bleiben, wenn nicht Finten, Brüche und komische Umwege in das Leidenswerk eingezogen werden. Heute geht die Sonne auf, morgen kommt die Hoffnung.
Man kann Pieter Gabriel sicherlich, und zwar ohne Häme, einen Singer/Songwriter, gar einen Liedermacher nennen. Bis vor kurzem noch hat er unter seinem musikgeschichtlich vorbelasteten bürgerlichen Namen diese alt-ehrwürdige Kluft in eher traditioneller Weise spazieren getragen: An der sanften Gitarre, gerne akustisch, vom Folk beseelt.
Clemens Schneider
Nach einer insgesamt recht schönen EP mit – einigen zugegebenermaßen etwas unglücklich gewählten – Coverversionen (Hasselhoff und Michael Jackson muss man nun wirklich nicht mehr neudeuten) wird Anfang November das Debütalbum von Gabriels neuer Unternehmung Sleep Sleep erscheinen: "Gospel" wird die, so viel sei schon verraten, ganz wunderbare Platte heißen, und hier wird nun verstärkt auf die Macht einer wohlig singenden Orgel, sachte Elektronik und insgesamt eine opulentere Farbgebung gesetzt.
Wie und mit wem und wo "Gospel" entstanden und zusammengebaut worden ist, ist bislang noch nicht überliefert. Hat Gabriel alle hier prächtig angehäuften Zauberklänge selbst eingespielt, haben Freundinnen im Studio auf einen Tee vorbeigeschaut und hernach Chöre eingesungen, die in den Charts Gottes landen müssen? Wurde hier gesamplet, die Magie des Computers überstrapaziert oder hat Gabriel jedes zu hörende Violinen-Summen eigenhändig aus der alten Holz-Maracuja gekitzelt?
Produktionsbedingungen könnten ohnehin öfter einmal egal sein. "Gospel" ist jedenfalls ein unglaublich reiches Album geworden, ein Fluß aus Honig und bitter schmeckendem Mandellikör. Es brummt und wabert, es pocht, pulsiert und eiert. Es gibt hier ein wunderhübsch beschwingtes Stück Fake-Americana zu erleben, oder auch einen Cocktail aus sensibler Euro-Disco und Depeche Mode in Leder. Vor allem aber hören wir auf "Gospel" vernebelten Dreampop, der zwar einerseits die Intimität des einsamen Heimwerkers versprüht, immer aber auch ein erhebendes Gemeinschaftsgefühl zu beschwören scheint. Eventuell will der Album-Titel schon etwas verheißen: Ein Gospel will verbreitet werden und geteilt sein mit guten Menschen.
Programmatisch ist hier die Vorabsingle: "Sunrise" nennt sich das vielleicht beste und schlichteste Stück des Albums. Ein kleines psychedelisch flackerndes Wunderwerk, das den Zustand des Halbschlafs in Musik übersetzt. Gabriel besingt den Sonnenaufgang, auf dass ihn dieser doch aus dem Bettchen holen möge. Ob der Künstler nun tatsächlich rausmöchte aus den feinen Federn oder vielmehr muss, bleibt unklar. Optimismus und Zweifel schillern in diesem Lied gemeinsam. Mit "Sunrise" hat Gabriel ein unendliches Gleichgewicht aus Sonne, Sehnsucht und Traurigkeit gefunden.