Erstellt am: 23. 10. 2013 - 17:04 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 23-10-13.
Noch immer recht neu; der Versuch das klassische Journal in der Form von 2003, '05, '07, 2009 und 2011 durch ein kürzeres Format zu ersetzen.
Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Warum geht Boris Becker auf die Knochentour?
#stars
Dass sich Stars, echte Stars, freiwillig in ein Ambiente des Grauens wie bei "Wetten Dass" stürzen, ist nachvollziehbar. Danach weiß der gesamte deutsche Sprachraum, dass Harrison Ford und Sylvester Stallone einen neuen Film und Cher ein neues Album hat. Die Abdeckung dieser Promotion ist flächendeckend.
Mühsamer ist die Ochsentour durch die Nachmittags-Hausfrauen-Talkshows oder die abendlichen Befindlichkeits-Foren. Das erfordert entweder ein absolut naives Gemüt oder einen wirklich guten Magen.
Wenn sich ein echter Superstar diese Tour antut, dann kann man toughes Gemüt und guten Magen vorraussetzen - es wird also einen ganz handfesten Grund geben.
Und genau dieser Grund, die Antwort auf die "Warum tun Sie sich denn sowas an?"-Frage ist es, die wahrscheinlich jeden Menschen als einzige wirklich interessiert. Es ist aber die Frage, die mit Sicherheit nicht gestellt wird in den Betroffenheits-Shows und Infotainment-Grenzbereichen.
Dort ist empathisches Geschleime angesagt, weil es doch so wichtig ist, in der Unterhaltungs-Branche und dem mittlerweile schon irre großen journalistischen Bereich, der da rüberlappt, sich als guter Begleiter und Freund der Stars ein entsprechendes Image zu gestalten. Um dann später selber einmal in diesen Shows zu sitzen mit einer jämmerlichen Biografie, die möglichst hohe Verbreitung sucht.
Boris Beckers Knochentour umfasst ja auch Signierstunden, also die unterste Stufe der Bücherverwertungskette. Offiziell sind die so, inoffiziell aber dann doch so verlaufen.
Es muss also recht schlecht um einen echten Weltstar stehen, wenn er in Wien zehn Autogramme gibt. Wie so oft erfährt man den Hintergrund für die Malaise, die den ehemaligen Tennis-Gott in so eine Ochsentour treibt, bei seinen Freunden, besser den Spezln, den Bekannten aus der Bayern-Clique rund um Focus-Herausgeber Markwort. Die aktuelle Titelstory heißt Verzockt! und rechnet haarklein jeden Badezimmer-Verbau in jeder Finca vor. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.
Aber selbst jetzt kann sich Becker darauf verlassen, dass bei seinen Auftritten die Focus-Geschichte keine Rolle spielen wird, maximal noch Anlass für ein mitfühlendes "furchtbare Geschichten kursieren... "-Antippsen, das mit einer echten Frage nichts zu tun haben will.
Man sorgt ja rührend füreinander, im Infotainment-Bereich.
Wilfrieds altes Jugend-Tagebuch
#life
Seit ein paar Tagen lese ich das alte Tagebuch eines Schulfreundes aus dieser Zeit. Einiges habe ich vergessen oder übersehen, einiges anders erinnert oder schlicht nicht gewusst, zu allermeist aber koloriert dieser Text meine Vergangenheit. Manchmal in eben unerwarteten Farben. Über die kurze und heftige Periode vor dem Schulabgang unseres gemeinsamen Freundes Christie in der Sechsten etwa erzählt Wilfried davon, dass ich da Christies vorderste Berzugsperson war. Daran konnte ich mich echt nicht erinnern.
Doch, sagt meine Mutter, sicher war das so. Du hast ihn damals doch fast regelmäßig zum Essen oder zur Jause mitgebracht. Und auch meine Schwester erinnert sich dann. Ich tu mir immer noch schwer, die damalige Phase zu greifen, aber die anderen Erinnerungen helfen.
Okay, das war nur ein Traum.
Ein altes Tagebuch hatte ich unlängst tatsächlich gelesen, es hatte aber leider nichts mit mir zu tun.
Wilfried ist mit 17 gestorben, sein Tagebuch würde ich echt gerne lesen, aber es gab wahrscheinlich keines und wenn, dann haben es seine seltsamen kalten durch seine Lebenswucht so überforderten Eltern sicher mit allem anderen weggeworfen.
Meine Mutter ist seit Anfang des Jahres tot und kann mir bei solchen Erinnerungsleistungen nicht mehr helfen.
Meine Schwester saß erst dieser Tage in meiner Küche.
Christie hat es nie gegeben, er ist ein Traum-Hybrid aus drei, vier anderen, irgendwie zusammengeflossenen Charakteren und Schicksalen. Ein genaues Bild zu haben, war deshalb selbst im Traum nicht möglich.
Ich weiß nicht so recht, was mir dieser Traum sagen will. Vielleicht mahnt er um Sorgfalt bei Beziehungen, fordert ein Bekenntnis an Erinnerung und argumentiert poetisch gegen das Vergessen. Zumal ja zwei wichtige Verschiedene drin aufgetaucht sind, der eine bereits tot, weil er schon so lange tot ist, die andere noch lebendig, weil es zu kurz her ist.
Aufgeweckt wurde ich übrigens (und nur deshalb hat es dieser Traum in den Tag geschafft, ich vergesse sonst alles in den ersten fünf Aufwach-Sekunden) durch einen furchtlos seine Inkompetenz an sein Gegenüber schleudernden Inländer-Installateur, der weder meinen Namen, noch den der Partei zwei Stockwerke unter mir, wo er hingehört hätte, noch die Adresse noch über den Sinn seines Tuns Bescheid wusste und einfach irgendwo anlaufen musste, um so Orientierung zu finden; also minutenlang wirres Zeug brabbelte, das in seiner Unsortiertheit an einen noch viel konfuseren und noch immer laufenden Traum erinnerte. Ich hab's nachher gecheckt: der Mann war echt; das Tagebuch suche ich noch.
Wo zwischen Polizei und Giftlern kein Unterschied besteht
#öffentlicherraum
Auf dem Weg zur Arbeit durchquere ich täglich ein Nadelöhr. Ein ohnehin schmaler Gehsteig wird durch die beharrende Existenz von dort herumlungernden Indivuduen noch weiter verschmälert, sodass man ohne "Entschuldigung, bitte!" oder komplexe Ausweich-Manöver nicht mehr durchkommt. Abends oder am Wochenende ist es nicht so schlimm, aber tagsüber stehen da zwei, manchmal drei, manchmal noch mehr herum; und oft sind es auch durchaus dicke Exemplare.
Gut, die meist zu vielen Menschen haben eine gute Ausrede, dort zu sein: es handelt sich zwar nicht um die Botschaft, aber eine wichtige Außenstelle einer gerade im Fokus eines Bürgerkriegs stehenden Nation, die anschlagspräventionstechnisch überwacht wird.
Nach ein paar Tagen des Novelty-Effekts und der leisen Aufregung ist das mittlerweile für alle Beteiligten, Polizei wie Anrainer, Routine und Alltag. Und deshalb reißen dann gewisse Automatismen ein.
Das ist deshalb gut vergleichbar, weil dieses Phänomen früher nur ein paar hundert Meter weiter eine ganze Passage lang zu beoabachten war. Als die Drogen-Substitutions-Szene vor dem Karlsplatz-Umbau den öffentlichen Raum dort zu ihrem Abhängeplatz erkor, war auch ganz schnell jeder, der dort durchwollte, ein feindliches Subjekt.
Die Polizei-Bewacher haben ihre schmale Gehsteig-Kante, die durch die Maße des immer davor geparkten Polizei-Busses definierten vielleicht vier Quadratmeter, als ihr Territorium in Besitz genommen. Wer dort durch will, ist ihnen automatisch verdächtig.
Ich denke, dass Ähnliches auch #occupy-Besetzern in den deutschen Inner Cities oder den achso flippig-jugendlichen NGO-Keilern oder den Tierschützern vorm Kleiderbauer oder den jetzt praktisch ausschließlich mit ostdeutschem Akzent sprechenden Punks Ecke Mariahilferstraße/Stumpergasse passiert.
Wer sich stets im selben öffentlichen Raum aufhält, beginnt, ihn als sein Eigentum zu betrachten. Und stellt dann ähnliche Regeln auf wie bei sich daheim. He, du trampelst durch mein Zimmer, in Straßenschuhen?
Ich glaub', ich wäre sehr anfällig.