Erstellt am: 23. 10. 2013 - 13:43 Uhr
Mind Games
Ice Pick Lodge
Ein Spiel zu spielen ist in gewisser Weise wie einen Vertrag einzugehen: Ich beschäftige mich mit dem Spiel, befolge seine Regeln, überwinde die mir entgegengeworfenen Hindernisse - und das Spiel garantiert mir im Gegenzug einerseits, dass es mir Aufgaben stellt, die bewältigbar sind und andererseits, dass das Ganze irgendwie lustvoll wird: Spaß soll es machen, auf die eine oder andere Art.
Ganz selten allerdings gibt es Spiele, die uns über's Ohr hauen: Nicht unbedingt, weil sie keinen Spaß machen, sondern weil sie unsere Erwartungen und alle möglichen Genrekonventionen in Frage stellen. Eines der großartigsten Experimente dieser raren Spezies ist "The Stanley Parable HD", das soeben - der Zusatz sagt's - in einer auf Hochglanz polierten Standalone-Version erschienen ist.
Galactic Cafe
Digitaler Determinismus reloaded
Wir erinnern uns: Das Original des Spiels erschien bereits 2011 als Mod für "Half-Life 2", und damals wie heute fällt es schwer, den Reiz dieses wunderbar hintergründigen und cleveren Erzählexperiments zu beschreiben, ohne den Reiz des Spiels zu zerstören. Die Basics: In der Gestalt Stanleys, eines anonymen Büroarbeiters, der völlig zufrieden mit seinem monotonen Dasein ist, wird der Spieler mit einer außergewöhnlichen Situation konfrontiert: Eines Tages scheint einfach jedermann in Stanleys Büro verschwunden. Kommentiert von einem Erzähler aus dem Off macht sich Stanley daran, herauszufinden, was passiert ist
"The Stanley Parable HD" ist für Windows zum Download erschienen. Es gibt eine - sehr empfehlenswerte, nichts vom Hauptspiel verratende - Demo.
Ich habe schon 2011 hier versucht, über Umwege ohne Spoiler diese Ausnahmeerfahrung im Gaming zu feiern, und dem ist auch 2013 anlässlich des HD-Remakes wenig hinzuzufügen, außer vielleicht das: "The Stanley Parable HD" ist noch abgefahrener, etwas umfangreicher und endlich als Standalone-Version ein absoluter Pflichttitel für alle, die sich auch nur im Entferntesten mit Spielen beschäftigen und halbwegs solide Englischkenntnisse aufweisen. Es ist kaum übertrieben, "The Stanley Parable HD" als einen Anwärter auf so einige "Spiele des Jahres" zu bezeichnen.
Schlaflos unter Poltergeistern
Doch "The Stanley Parable HD" ist zurzeit nicht das einzige Spiel, das es sich zum Ziel gesetzt hat, seine Spieler gepflegt zu verwirren. Das russische Entwicklerstudio Ice-Pick Lodge hat es mit "Knock-knock" allerdings deutlich mehr auf unheimliche Verstörung denn auf humorvolle Meta-Gags abgesehen, und wer die bizarren und komplexen bisherigen Spiele der Russen kennt - das hintergründige "Pathologic" und das abstrakt-metaphysische "The Void" - , glaubt sich vielleicht etwas auf den Mindfuck vorbereitet, der hier wartet.
Doch darauf kann man nicht wirklich vorbereitet sein: In Gestalt eines verwirrt dreinblickenden Einsiedlers in Cartoon-Optik tappt der Spieler wiederholt durch sich immer wieder verändernde Räume eines Hauses mitten im nächtlichen Wald, um durch Glühbirnentausch und Sich-Verstecken die albtraumhaften Geister im Zaum zu halten, die von überall her in das Haus, aber auch das Leben und das Gehirn des immer wieder wirre Vorträge direkt an den Spieler richtenden Schlaflosen eindringen wollen.
Was Realität ist, was Albtraum, was die Gestalten von uns wollen, wovon die unterschiedlcihen Stimmen reden, die immer wieder eindringlich auf uns einflüstern, warum wir endlos im nächtlichen Wald herumirren, nur um wieder zu unserem sich ständig verändernden, zu abstruser Form heranwachsenden Haus zurückzukehren, sind die Fragen, denen man sich in "Knock-knock" als Spieler zu stellen hat. Klassische Gegner, Rätsel, lineare Story? Fehlanzeige. Stattdessen: ein weiterer geglückter Versuch, einen psychischen Ausnahmezustand als spielbare Erfahrung erlebbar zu machen.
Ice Pick Lodge
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Das Konzept zum Spiel sei von außen, von mysteriös-unbekannter Seite per Email an das Studio herangetragen worden, beteuern die schlitzohrigen Russen im Kickstarter-Video, und es handle sich bei "Knock-knock" auch um kein Spiel, sondern um ein gefährliches mystisches Experiment, das sich bei korrekter Ausführung bis ins reale Leben der Spieler fortsetzen würde. Mit dieser Metaebene, die wie dereinst die Kampagne zu "The Blair Witch Project" Realität mit Fiktion verknüpft, wird auch "Knock-knock" selbst zur Interpretationsaufgabe für den Spieler.
"Knock-knock" ist für PC, Mac und Linux zum Download erschienen.
Man muss schon ein kleines bisschen mitspielen, damit sich die mysteriös-verwirrende Melange aus Arthouse-Game und recht einzigartigem Spielerlebnis zu einer gruseligen Gesamterfahrung zusammensetzt. Aber es funktioniert: Der grandios-atmosphärische Sound, das repetitive, immer fragwürdiger werdende Gameplay und der seltsam niedlich-unheimliche Stil bescheren dem, der sich auf dieses ungewöhnliche Experiment einlässt, tatsächlich so manchen Gänsehautmoment und angenehmen Grusel, der bis ins Hier und Jetzt nachhallt - wenn man ihn lässt.
Spielezukunft
Bei beiden Spielen – wie auch beim kürzlich vorgestellten "Amnesia – A Machine for Pigs" – ertönte auch bei "The Stanley Parable HD" und "Knock-knock" der aggressiv-weinerliche Aufschrei all jener, die durch solche Experimente "ihr" Medium gefährdet sehen: "Knock-knock" sei ja gar kein richtiges Spiel, und auch das clevere Erzählexperiment "The Stanley Parable" sei nur ein "glorified walking simulator". Mehr noch: "This is 'Dear Esther' all over again. If you buy this – you support the cancer of the video games industry", wie ein besonders aufgewühlter Verteidiger des True Gamings in den Steamforen klagte.
"Dear Esther" und "Stanley" als todbringender Krebs, der die Gamesindustrie zerstört? So viel zersetzende Kraft im oft stagnierenden Medium dürfen wir uns wohl realistischerweise von diesen kleinen, innovativen Experimenten nicht erhoffen – aber man wird ja wohl noch träumen dürfen. Mit "Knock-knock" und "The Stanley Parable" beweisen auf jeden Fall zwei sehr originelle Titel ganz abseits des Mainstreams, wie frisch neue Ideen im Gaming mit unseren Gehirnen spielen können.
"Mind Games" eben - mit höchst amüsanter Verwirrungsgarantie.