Erstellt am: 19. 10. 2013 - 13:18 Uhr
Zurück an die Grenze
Lesbos - Athen - Patra - „Europa“. Diesen Weg legen viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zurück, die in ein europäisches Land mit funktionierendem Asylsystem wollen. Griechenland ist für die meisten nur eine Zwischenstation, weil sie dort nur in seltenen Fällen Asyl bekommen, und vor allem die Gefahr besteht, dass sie unter menschenverachtenden Bedingungen in Haftlagern eingesperrt werden. Vor ein paar Tagen ist eine Gruppe von jungen Flüchtlingen an die griechische Grenze zurückgekehrt, auf Einladung von AktivistInnen des Netzwerks „Welcome to Europe“ und der Organisation „Jugend ohne Grenzen“. Anfang Oktober waren sie auf Lesbos, auf ihren eigenen Spuren, diesmal allerdings ‘legal’ und mit gültigen Papieren.
Die meisten jungen Afghanen und Sudanesen waren vor ein paar Jahren mit kleinen Schlauchbooten von der Türkei nach Lesbos gerudert, auf der Suche nach Schutz. Der Weg nach Mittel- und Nordeuropa war beschwerlich, immer in Angst vor Entdeckung, mit wenig Möglichkeiten, eigenes Geld zu verdienen. Sie haben es trotzdem bis nach Deutschland und Schweden geschafft, wo sie versuchen, ein eigenes Leben aufzubauen.
Austausch mit der lokalen Bevölkerung
Jetzt sitzen sie in der Nähe des Hafens von Mytilene auf Lesbos am Strand und diskutieren. Sie sind alle über Lesbos in die EU gekommen, sie sind nochmals zurückgekommen, um mit AktivistInnen und der lokalen Bevölkerung Erfahrungen auszutauschen und über Grenzpolitik und Bewegungsfreiheit zu diskutieren.
Kazem ist ursprünglich aus Afghanistan gekommen, er war 17 Jahre alt, als er auf der Insel gelandet ist, nass, ohne Papiere, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll: „Genau bei dieser kleinen Kirche bin ich angekommen, und bin dann oben zum Schloss gegangen. Dort habe ich meine Klamotten gewechselt und bin danach mit viel Mühe nach Athen weitergefahren.“ Kazem hat Griechisch gelernt und sowohl auf Lesbos als auch auf Kreta gearbeitet. Aber er hat es nicht geschafft, Papiere zu bekommen: „Griechenland war für mich wie ein großes Gefängnis.”
Vor dreieinhalb Jahren ist er in einen LKW geschlichen, mit dem Ziel, nach Deutschland zu gelangen. Dieselbe gefährliche Reise haben auch viele andere der minderjährigen Flüchtlinge zurückgelegt, die in Griechenland kein Asyl bekommen haben. So auch der 19-jährige Farid aus Afghanistan. 38 Stunden hat er sich in einem LKW versteckt, der von Patras aus nach Italien gefahren ist. „Ich habe 38 Stunden lang nichts gegessen und getrunken. Als ich in Italien ankam, war ich sehr froh. Es war ein großes Risiko und ich hätte dabei mein Leben verlieren können“, sagt Farid. Heute lebt er in Schweden und geht dort zur Schule.
Auf dem Strand treffen sich auch Freunde von Kazem und Fariq, die es nicht geschafft haben, Griechenland zu verlassen. Sie wohnen immer noch im Aufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Bergdorf Agiasos, das zwar wegen Finanzierungsproblemen kein Personal mehr hat, offiziell aber noch offen ist. Dort gibt es weder Essen, noch Kleidung, noch Betreuung, erzählen sie, viele sind müde, hoffnungslos und traumatisiert.
Ein paar Meter weiter steht Houssein mit seinem zweijährigen Sohn. Houssein lernte bei einem Projekt von AktivistInnen seine deutsche Lebenspartnerin kennen, mit der er inzwischen ein Kind hat. Er lebt in Berlin und will anfangen, zu studieren. Die Tatsache, dass er Papiere besitzt, hat sein ganzes Leben verändert. „Ohne Papiere ist es sehr schwer und sehr hart, und ich wusste nicht, ob ich am Ende überleben werde. Aber jetzt habe ich Papiere, und ich weiß, ich kann mich ohne Kontrolle und ohne Fragen bewegen; die Leute heißen mich willkommen - vorher wollte mir das niemand sagen.“
Salinia Stroux, Abdollah Haidari und Bostjan Videmsek
Der 25-jährige Afghane hat mehrere Monate im Aufnahmezentrum in Agiasos gelebt. Er ist froh, seine alten Freunde zu treffen. Gleichzeitig macht er sich aber Sorgen um sie und auch über die neuangekommenen Flüchtlinge auf Lesbos. Als er damals auf der Insel ankam, wurde er für einige Zeit im berüchtigten Internierungslager Pagani festgehalten, das 2009 nach heftigen Protesten geschlossen wurde. Danach gab es kein Internierungslager mehr auf der Insel. Seit Ende September gibt es ein neues Haftlager in Morias, das offiziell als erstes Aufnahmezentrum funktionieren soll und nach EU-Normen errichtet ist. Aber trotzdem ist es ein Gefängnis mit Stacheldrähten und Polizeibewachung wo Asylsuchende eingesperrt werden.
Unter den jungen Flüchtlingen, die gerade nach Lesbos gekommen sind, befinden sich auch Newruz, eine junge Kurdin und Sahid aus Sierra Leone, Mitglieder von „Jugend ohne Grenzen“. Sie sind gekommen, um gegen das neue Haftlager zu demonstrieren, aber auch um der vielen Toten zu gedenken, die auf dem Weg nach Europa, vor der griechischen Küste ihr Leben verloren haben. „Jugend ohne Grenzen“ wurde 2005 in Deutschland gegründet und besteht aus jungen Flüchtlingen mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung und Aktivistinnen. Sie wollen gemeinsam für Bleiberecht und gegen die „Festung Europa“ kämpfen.
Chrisi Wilkens
Gedenken an die, die es nicht geschafft haben
In einer kleinen Bucht von Thermi auf Lesbos stellen Newruz und Sahid zusammen mit den den anderen ein Mahnmal auf. Auf einer weißen Tafel stehen die Namen von syrischen Flüchtlingen, die im vorigen März an diesem Ort ertrunken sind. Die Gedenkveranstaltung beginnt. Sahid dankt mit warmen Worten den Fischern der Insel, die die Flüchtlinge in Not gerettet haben. Newruz umarmt ihre Freunde, die mit Tränen in den Augen auf die Fotos der Verstorbenen und Vermissten schauen, die inmitten eines Meeres von Blumen liegen.
In der Ferne kann man die Küste der Türkei sehen, von dort aus sind die Verunglückten gestartet. Auch die Brüder von Newruz, die versucht haben, auf dem Seeweg Europa zu erreichen, sind vor Griechenland in Seenot gekommen, wurden aber gerettet. Newruz lebt in Deutschland. Αcht Jahre lang musste sie mit Duldungsstatus leben. Damit dürfte sie weder arbeiten, noch eine Ausbildung machen. Bei „Jugend ohne Grenzen“ versucht sie ihre Rechte und die Rechte anderer Asylsuchenden zu verteidigen. „Wir machen sehr viel Lobbyarbeit, Kampagnen. Wir sprechen viel mit Politikern. Das Wichtigste aber ist, dass wir uns untereinander unterstützen, weil wir wissen, wie es ist, von Abschiebung bedroht zu sein. Und wenn unsere Freunde bedroht sind, dann ist das Wichtigste, diese Personen zu unterstützen, damit sie da bleiben kann.“ Für Newruz ist klar, die europäische Flüchtlings- und Grenzpolitik muss dringend verändert werden. „Wenn man Menschenrechte wirklich ernst nimmt und es groß auf die Fahne schreibt, wie Europa es tut, dann muss es auch ernst genommen werden. Dann müssen die Menschen, die sich auf so einen gefährlichen Weg machen, ohne zu wissen, ob sie jemals überhaupt ankommen, die müssen unterstützt werden, die müssen rausgeholt werden, die müssen reinkommen dürfen!.“