Erstellt am: 10. 10. 2013 - 17:31 Uhr
Weil sie sich dem Krieg entziehen
Der italienische Journalist Fabrizio Gatti hat einen Reisebericht aus der Hölle publiziert. Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt und ist undercover als Flüchtling von Westafrika nach Italien gekommen. Was er dabei miterlebt hat, hat er in seinem Buch "Bilal" beschrieben.
CC BY-SA 2.0
Dieser Tage recherchiert Gatti wieder auf Lampedusa. Was ist seine Antwort auf die jüngste Flüchtlingskatastrophe und wie ist die Situation derzeit in Lampedusa? Gerlinde Egger und ich haben mit ihm telefoniert:
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"Ich habe gehört, dass man auch von der italienischen Regierung verlangt, die Polizeiaktionen der europäischen Agentur FRONTEX zu verstärken. Ich glaube, wenn das die einzige Lösung sein soll, ist das keine kluge Lösung. Seit mehr als zehn Jahren haben wir den Polizeimaßnahmen nun zugesehen, Polizeiabkommen zwischen Ländern der EU und Ländern auf der anderen Seite des Mittelmeers, in die man auch jene Diktaturen miteinbezogen hat, die es dort gab - Gaddafi in Libyen, Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten - und wir sehen, was das gebracht hat in den vergangenen Jahren. Es reicht nicht. Die Tausenden Menschen, die dieses Jahr die italienischen Küsten erreicht haben, sind alles Personen, die Voraussetzungen mitbringen, um um Asyl anzusuchen. Und die Länder der EU, die alle die Flüchtlingskonventionen unterschrieben haben, sind angehalten, den Ersuchen dieser Menschen Gehör zu schenken."
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"Die Situation derzeit ist so, dass sich noch zig Leichen im Bootsrumpf befinden, der in circa 50 Metern Tiefe liegt, und die Taucher haben große Probleme sie zu erreichen. Weil es der Rumpf eines Fischkutters ist und kein großes Schiff, ist es nicht möglich hineinzuschlüpfen in der jetzigen Position des Wracks, auch weil das Boot sich beim Absinken gedreht hat und die Körper der Menschen in bestimmten Bereichen zusammengedrängt hat. Das ist die Situation. Die Überlebenden sind in einem Sammellager zur Identifizierung auf Lampedusa untergebracht. Von hier werden sie verlegt werden müssen und die Behörden suchen noch nach Lösungen, auch weil mit den Ankünften der letzten Monate alle Einrichtungen in Sizilien und Süditalien voll sind."
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fabrizio gatti
Bilal - Als Illegaler auf dem Weg nach Europa (Kunstmann Verlag, Übersetzung aus dem Italienischen von Rita Seuß)
"Ich bin hier, um zu versuchen die Geschichten der Überlebenden zu erzählen. Der Espresso (das Wochenmagazin, für das Gatti arbeitet, A.d.R.) erscheint diesen Freitag mit einer breiten Hintergrundberichterstattung. Ich beschreibe die Figuren der Schlepper, die so etwas wie die Schlüsselfiguren dieser verheerenden Katastrophen sind. Weil die Schlepper sind das letzte Glied in der Kette ihrer Organisationen und zum Beispiel in diesem Fall hat der Schlepper eine wesentliche Rolle, weil er, sobald die Insel in Sicht ist, allen Passagieren befiehlt, ihre Handys ins Wasser zu werfen. Offensichtlich wollte er Anrufe vom Boot aus vermeiden, um sich selbst verstecken und verschwinden zu können. Was ich jetzt machen möchte, ist, die Geschichten der Passagiere zu erzählen, aber es ist absurd: Weder die Toten noch die Überlebenden können wir bei ihren Namen nennen. Nicht weil es dagegen ein Gesetz gäbe, sondern weil, wenn wir Namen veröffentlichen würden, zumindest was die Passagiere aus Eritrea betrifft und die meisten Passagiere an Bord waren Eritreer, das eritreische Regime von Isayas Afewerki deren Angehörige verhaften lassen würde, wie es in der Vergangenheit schon geschehen ist. So hat nicht einmal, wer stirbt, das Recht erinnert zu werden. Das sollte uns die freundschaftlichen Beziehungen überdenken lassen, die einige Länder der EU zu Eritrea pflegen, darunter auch Deutschland und Italien. Das müsste uns eher dahin drängen, vielleicht diplomatischen Druck auszuüben, damit Eritrea sich auf einen demokratischen Weg macht, der 2001 unterbrochen wurde durch einen Staatsstreich des aktuellen Präsidenten. Das zu tun, würde auch bedeuten, den dramatischen Konsequenzen vorzubeugen, falls das Regime stürzt, was wir in Libyen oder eine Zeitlang in Tunesien gesehen haben oder was die Opposition in Syrien dann mit sich brachte."
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"Es ist ein Aufschrei der Verzweiflung. Ich habe mir gedacht, es wäre angemessen und richtig, sich auf den Friedensnobelpreis zu beziehen, weil er noch immer - auch wenn über einige Entscheidungen viel diskutiert worden ist -, eine Form der Anerkennung und ein wichtiges Instrument darstellt, um eine weltweite Öffentlichkeit dafür zu schaffen, was passiert. Durch die Verleihung an Aung San Suu Kyi zum Beispiel haben wir von dem Drama der Diktatur in Burma erfahren. Wir haben also eine Unterschriftenpetition gestartet, den Text gibt es auch auf Deutsch, die dazu dienen soll, die Bemühungen der Bewohner der Grenzregionen als Zeichen des Friedens anzuerkennen. Lampedusa steht symbolisch und real dafür, sich der Situation zu stellen und Rettung und Hilfe anzubieten. Aber vor allem geht es darum, mit Lampedusa daran zu erinnern, wie viele den Friedensnobelpreis verdienen, weil sie aus ihren Ländern geflüchtet sind, um eben nicht zu kämpfen, um sich dem Krieg zu entziehen. Wer wäre ein besserer Vertreter des Friedens als sie?"
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"Was Nordafrika betrifft, können wir von Aufnahmezentren in Libyen sprechen, die mit italienischen und EU-Geldern gebaut wurden, und die Menschen aufnehmen sollen, die auf See zurückgewiesen werden. Aus humanitärer Sicht war die Situation in diesen Zentren schon früher sehr kritisch, was sich auch bei Besuchen von EU-Delegationen zeigte. Nach dem Fall des Gaddafi-Regimes haben sich die Bedingungen verschlechtert. Es handelt sich um Aufnahmezentren, die mittlerweile von Banden verwaltet werden und wo sich die Schleppermafien ihre Klienten zusammensammeln. Die Bedingungen werden schlechter, umso mehr drängt man die Menschen zum Aufbruch. In Italien unterscheidet man auf Anweisung der EU zwei Arten von Zentren: Jene für Asylwerber, die gerade angekommen sind, und solche für Personen, die ohne Papiere angetroffen wurden und die zur Rückkehr gezwungen sind. Weil es aber nicht viel Geld dafür gibt und Rückführungen nicht oder nur selten möglich sind - im Moment etwa nur für ägyptische Staatsbürger -, werden die anderen bis zu 18 Monate lang eingesperrt. Das sind Einrichtungen, die sind keine Gefängnisse, haben aber die gleichen Zustände. Personen werden dort eingesperrt, ohne Prozess, nur wegen der Tatsache, dass sie keine regulären Papiere mehr besitzen. Das betrifft auch viele Einwohner, die in Italien gearbeitet haben. Durch die Krise haben sie ihre Arbeit und damit ihre Aufenthaltsgenehmigung verloren und sitzen jetzt in Haft. Das ist ein Problem, das ganz Europa vereint, weil jedes EU-Land hat solche Strukturen und begegnet, im Rahmen der Vorgaben der EU, der Einwanderung unter anderem mit Haft."
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"Die Italiener waren selbst Auswanderer und sind es auch jetzt wegen der Wirtschaftskrise. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Italiener das aber vergessen und haben dem politischen Appell zugestimmt, das in Italien Berlusconi oder in Frankreich Sarkozy ausgedrückt haben, also die Angst gegenüber den Fremden. Jetzt - mit dem endgültigen Abgang Silvio Berlusconis von der politischen Bühne - beginnt Italien, sich mit seiner jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen, und ich glaube, es überdenkt auch seine Position in Bezug auf die Pflicht, Flüchtlingen zu helfen."
Foto Lobo
Riace - das gallische Dorf in der EU
Letztes Jahr habe ich eine Reportage in Riace gemacht, einem Dorf im süditalienischen Kalabrien. Es ist das Gegenmodell zur europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen. 200 KurdInnen sind 1998 in einem Schlauchboot im Hafen von Riace gestrandet. Die DorfbewohnerInnen haben sie in leerstehende Häuser einziehen lassen. Seitdem blüht Riace auf. Die Schule und mehrere Handwerksbetriebe haben aufgesperrt. Das Dorf hat eine Mikroökonomie mit eigener Währung und Qualitätstourismus entwickelt. Ich habe mich in Riace aufgehalten und mit DorfbewohnerInnen, dem Bürgermeister und mit Flüchtlingen über ihre gelebte Utopie gesprochen.
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