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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

9. 10. 2013 - 21:00

HipHop-Lesekreis: Chum

Earl Sweatshirts Reise von der Totalverweigerung zum Post-Therapie-Rap

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Wenn man wollte, könnte man Earl Sweatshirt, Mitglied des HipHop-Kollektivs Odd Future, in einer Tradition der großen, jungen, aufbegehrenden Poeten sehen. Der junge Mann weiß zwar nicht, wohin man sein Schiff steuern will, aber in den brachen Gewässern des elterlichen Hafens der geregelten Sozietäten will er auf keinen Fall bleiben.

Mit einer Mischung aus Zorn und Zynismus spuckte Babyface Earl schon beim ersten Auftauchen in unsere Wahrnehmungskreisen Blut und Zähne.

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Earl hieß das Meisterwerk, inszeniert von Videoregisseur AG Rojas, der Experte für Inszenierungen von Weltenekel-geprägter Teenager-Totalverweigerung zu sein scheint. Earls trunkenes Schiff wurde von dem elterlichen Schlepper in Samoa vor Anker gelegt. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht überlegen, wie vielen jugendlichen Genies durch solcherlei Zwangs-Exile und den vor allem in Amerika beliebten "Beruhigungs-Tabletten" schon ihre Kreativität ausgetrieben wurde, aber das nur am Rande.

Kurz nach seiner Rückkehr aus dem Bootcamp für nicht nur aus der Reihe tanzende, sondern den sozialen Rahmen sprengende Teenager begann Earl jedenfalls an seinem wirklichen Debütalbum zu arbeiten, das kürzlich unter dem Namen seiner verstorbenen Großmutter Doris veröffentlicht wurde.

Track Nummer 6 auf "Doris", Earl Sweatshirts aktuellem Album ist "Chum". Der Song entstand relativ früh im Prozess und bringt die Entfremdung und Awkwardness, die Earl ständig spürt, gut zum Ausdruck.

Too black for the white kids, and too white for the blacks
From honor roll to cracking locks up off them bicycle racks

Ebenfalls artikuliert er seinen Zorn, dass die Free-Earl-Kampagne zu einem viralen Witz auf seine Kosten geworden ist und er es gar nicht so cool findet, Photoshop-Montagen seiner Fresse auf Milchpackungen zu sehen, und Journalisten, die sich als einfühlsame Jugendbetreuer inszenieren, braucht er so dringend wie die Krätze.

Earl Sweatshirt rappt in "Chum" auch, dass er in Tyler, the Creator, ebenfalls Odd Future-Mitglied, einen großen Bruder gefunden habe. Und auch bei anderen Nummern hat man das Gefühl, es handelt sich um eine Familienaufstellung.

doris

Earl und Tyler können sehr gut über ihre psychischen Geografien sprechen, in gewisser Weise haben sie ein Genre erfunden, das die Welt vielleicht in ein paar Jahren kanonisieren wird: Post-Therapie-Rap. Wir können nur zum wiederholten Male hoffen, dass Slavoj Žižek nie Odd Future und ihre zu komplexen, mehrschichtigen Rap-Erzählungen auf der Suche nach dem abwesenden Vater entdeckt.

It's probably been twelve years since my father left, left me fatherless
And I just used to say I hate him in dishonest jest

Ich hab den Überblick verloren, auf wie viele miteinander im Krieg befindlichen Personen es Tyler auf seinem Alben bringt. Dafür ist Earl erstaunlich noch aus einem Guss, findet der Hip-Hop-Lesekreis, bestehend aus Mahdi Rahimi, Ole Weinreich, Trishes und mir.

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