Erstellt am: 9. 10. 2013 - 14:18 Uhr
A Day at the Races
Ich mag Wien am Sonntagmorgen. Ich gehe langsam die Straßen der menschenleeren Stadt entlang. Fast niemand leistet mir Gesellschaft. Nur eine Pfütze aus Kotze, die wie eine Leinwand von Jackson Pollock in der Straßenecke rausgeschossen wurde, erinnert daran, dass gestern Abend doch Leben da war. Sonst nichts. Sogar der, der das Erbrochene putzen soll, ist noch nicht aus seinem Bett herausgekrabbelt. In meinem Kopf läutet dieser alte bekannte Song, in dem Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers der Stadt, in der er lebt, seine Liebe erklärt: "Sometimes I feel like my only friend is the city I live in. Lonely as I am. Together we cry."
Ich bin eigentlich nicht so früh am Sonntag wach, um blöd zu philosophieren. Ich gehe arbeiten. Man sagt, dass es in der Biographie jeder großer Persönlichkeit eine Periode gibt, wo man in einem Supermarkt, in einer Bar oder am Hafen arbeitet. Diese Periode ist bei mir ein bisschen länger geworden. Dieses Mal bin ich Einfahrtsportier bei der Pferderennbahn. Ich sitze den ganzen Sonntag in einer Baracke und schaue, dass niemand mit einem unangemeldeten Pferd zum Rennen erscheint.
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Ich habe keine Ahnung, wer auf der Idee kommen könnte, mit einem unangemeldeten Pferd zum Rennen zu kommen. Er kann ja mit einem unangemeldeten Pferd nicht gewinnen. Außerdem kann ich sowieso die Pferde nicht voneinander unterscheiden. Ob jetzt Contessa di Lancia oder Kleopatra kommt, ist mir völlig egal. Die Pferde sind sowieso in Pferdetransportwagen eingeschlossen. Ich stelle mich vor, wie ich die Besitzer auffordere, den Laster zu öffnen und hineinschreie, "Kleopatra, bist du das, mein Mädchen?" Wenn nicht Kleopatra, dann heißt das Pferd Nofretete, wenn nicht Bismarck, dann Napoleon. Größenwahnsinniger geht es kaum.
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Es ist mir völlig egal, wer die Rennen gewinnt. Ich sitze nur da und drücke auf einen Knopf. Das ist meine ganze Arbeit. Die Pferderennen und die Trabrennbahn in Wien sind Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Jeden Sonntag kommen immer die gleichen hundert Leute, die schon längst im Pensionsalter sind. Die Trabrennbahn existiert dank Riesenkonzerten von Robbie Williams, die dort im Sommer ausgeführt werden und die Tribünen so füllen, wie die Rennen selbst es nie machen können. Zwei dieser Tribünen sind seit Jahren verfallen. Die Stallgebäude sind denkmalgeschützt und gehören zum Wiener Kulturerbe. Sie riechen auch genauso wie vor hundert Jahren. Ich stelle mir die Wiener Trabrennbahn in der Zeit der Monarchie vor. Die jungen Damen, die den Jockeys nachlaufen, die aus allen Ecken des Imperiums gekommen sind, um den Besten unter ihnen zu finden. Ich stelle mir vor, an deren Stelle zu sein… Aber eigentlich bin ich nie geritten und wahrscheinlich wird es dabei bleiben.
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Eine einzige Person auf der ganzen Pferderennbahn freut sich ohne Hintergedanken auf die Pferde und auf die Rennen. Er sitzt oft bei mir in meiner Baracke. Marcel ist der Sohn der Frau, die die Ställe putzt. Er hat mentale Probleme. Marcel ist ungefähr zwölf Jahre alt und kann höchstens zehn bis fünfzehn Wörter. Er freut sich riesig, wenn er meinen Job machen kann und auf den Knopf drückt. Ich mache Tee für ihn. Er winkt allen Pferden und Jockeys lächelnd zu. Manche winken zurück. All we need is love.
Eines Tages wird die Pferderennbahn wohl geschlossen und ich verliere meinen Job. Ich werde nicht mehr so früh am Sonntag aufstehen, um meine Liebeserklärungen an das verschlafene Wien zu machen. Was wird dann aus Marcel werden? Was macht er, wenn ich und die Pferde nicht da sind?