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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

6. 10. 2013 - 18:51

"Der Atemzug, bevor du die Kontrolle verlierst"

Anna Calvi steigt empor.

"It is important for me on this record that there was a variety of sound and there was moments of ugliness and moments of beauty."

Cover mit Anna Calvi

Domino

Schönheit und Hässlichkeit nebeneinander zu platzieren, das wollte Anna Calvi auf ihrer neuen Platte. "One Breath" heißt sie und die Metapher vom einen Atemzug steht dem ganzen vor, in einer kleinen Cinemascope-Kreatur von Opener, die von Anna Calvis Hauchen in Richtung einer wollüstig sich aufwölbenden Steinlandschaft aus tausend Geigen gedrängt wird. Erstaunlich für all jene, die ihre minimalistischen "Attic Sessions" im Kopf haben, wo die Snare mit den Fingerkuppen gespielt wurde und neben Calvis Gitarre nur ein Harmonium und eine Triangel zu hören waren. Oder das Jon Spencer'sche Power-Trio-Konzept des Debuts, aus dem sie so viel Leidenschaft und Druck herauszuholen vermochte, gerade weil hier nur drei MusikerInnen zugange waren. Jetzt also Breitwand. Strawinski. Debussy. Richard Wagner. C. M. v. Weber. Scott Walker. Riz Ortolani. Das große Drama. Die Unbedingtheit des unwiderbringlichen Moments: "One Breath" - der eine Atemzug, die eine Sekunde, die einem Zeit bleibt, bevor etwas beginnt, bevor man spricht, handelt oder singt.

"Das ganze Lied ist der kurze Moment, bevor etwas passiert, der kurze Atemzug, bevor du vielleicht jemandem etwas Wichtiges sagst, das sogar dein ganzes Leben verändern könnte, die mikroskopische Beobachtung dieses Moments, bevor du die Kontrolle verlierst, bevor die Dinge sich deiner Kontrolle entziehen. Dieser Moment hat etwas Trauriges, aber er birgt auch große Hoffnung, denn die Möglichkeiten sind unbeschränkt. Das ist die Idee hinter dem Song."

Die Story soweit

Die Vorgeschichte wirkt rückblickend fast wie ausgedacht: Halb Engländerin, halb Italienerin, klassisch an der Geige ausgebildet spielt Anna Calvi im Dachboden ihrer Mutter minimalistische Coverversionen von David Bowie, Elvis Presley und OMD ein und covert auf ihrem Debutalbum ein 60 Jahre altes Chanson von Edith Piaf. Sie weiß alles über Avantgarde, Klassik, Jazz und vor allem Blues und Rock'n'Roll, sie ist superkonsequent, in Soundfragen völlige Herrin über jeden Ton und jede Pause, die auf ihrem so manieristisch-roh wirkenden Debutalbum ertönen, sie pflegt einen bis zur Penetranz dehnenden, expressiv sich überschlagenden Gesang, untrainiert, unkontrolliert, ungebremst, und sie spielt eine mörderische elektrische Lärmgitarre mit Feedback-Explosionen, die den alten Hendrix erblassen lassen.

Anna Calvi im Anzug, an einer Bar lehnend

Roger Dekker

Sie übererfüllt maskenhaft viele Frauenklischees - sie ist natürlich atemberaubend schön und geheimnisvoll, inszeniert sich als Mischung aus Djuna Barnes, Torero und Domina, voll Kraft und Lust und Ungestüm. Zugleich droht sie mit Kastration, indem sie das letzte Männerdomäneninstrument mühelos kontrolliert, den vor Stromstärke flirrenden, auf jede kleine Bewegung mit Aufjaulen reagierenden brummenden Gitarrenverstärker. Fertig ist das Kunstwerk Anna Calvi in aller Angst machenden, faszinierenden schillernden Pracht. Dass so jemand Liebling von allen wird, ist klar, und die älteren Herren im Rock Business, von Brian Eno bis John Cale und auch Karl Lagerfeld wetzten auf ihren Stühlen vor Begeisterung. Sie spielt im Vorprogramm von Nick Caves Bärtewitz-Machokarikaturband Grinderman und geht durch die Decke.

Das Jahr danach

"One breath" hat ein Jahr gedauert, ein Jahr Schreiben und Aufnehmen, zusätzlich zum unermüdlichen Touren und mit Altmänner-Promis abhängen, was Anna Calvi doch so an die Substanz gegangen sein dürfte, dass sich ein gewisser Burn Out eingestellt hat, der sich dann zu einer waschechten Depression auswuchs. In diesem Jahr hat Anna Calvi eine deckenlose Soundkathedrale gebaut, aus Elementen von Wagner, Debussy, Sonny Sharrock, Laura Nyro und anderen, die sich womöglich bei einer dieser Glamour Parties gar nicht grüßen würden.

So sind Teile von "One Breath" - ganz der alten romantischen Künstlersublimationsidee entlang - auch selbsttherapeutische Auswege, sei es textlich oder - mit Hilfe ihrer tighten, treuen kleinen Band - durch Ausflüge in Atonalität und Ungestüm, Swing und Schnulz - gipfelnd in dem kleinen netten Popsong "Suddenly", der uns daran erinnert, dass man noch aus dem tiefsten Loch wieder rauskommt, die "Flüggäl" (ein notwendiges Zitat) ausbreitet - und plötzlich wird dann die grausame Gegenwart Vergangenheit sein. Plötzlich, suddenly.

"Das Lied handelt von einer Zeit, die dir womöglich schwierig vorkommt. Die Erinnerung an diese schwierige Zeit bleibt auch an dir haften und dennoch kannst du sie hinter dir lassen."

Die romantischen Referenzen auf "One Breath" kulminieren in Calvis Interpretation einer der großen kanonisierten Liebesgeschichten, der von Tristan und Isolde, in dem Song "Tristan", den sie so ziemlich leichtherzig einfach mal umgedreht hat.

"Die Nummer handelt wohl von der stereotypischen Liebesgeschichte, in der die Frau gleich steben muss und der Mann den ganzen Spaß hat. Das hab ich umgedreht und erzähle eine andere Geschichte in der die Frau die Heldin ist. Und Tristan muss jetzt mal warten, sie macht die ganze Action."

Und wenn die Action Gitarrenfeedback ist - die Jungs haben jetzt Pause und Anna Calvi zeigt den Mädels "the fun stuff".