Erstellt am: 1. 10. 2013 - 13:45 Uhr
Verkopfte Bauchmusik
Aus aktuellem Anlass habe ich sie gehört, diese großartige Nummer und schon schwirren sie mir seit zwei Tagen durch den Kopf, dieses trockene knallende Schlagzeug, die herrlichen Gitarrenwände und die melancholische Gesangslinie. Auch wenn "Time Is Not A Remedy" von dem deutschen Quintett Slut schon elf Jahre am Buckel hat, ist es immer noch ein herrlich tanzbarer Indiedisco-Hit.
In den letzten fünf Jahren haben die Ingolstädter andere Wege beschritten. Ihr Projekt "Corpus Delicti - eine Schallnovelle" mit der Autorin Juli Zeh war wie Sänger Chris Neubürger meint "sehr lehrreich" und hat anscheinend auch dazu geführt, dass die neue Platte "Alienation" so derart spielerisch, unerschrocken und ambitioniert in neue Klangwelten vorstößt.

SLUT
Entfremdung vom Gewohnten
Schon der vertrackte Beat des Eröffnungsstücks "Everybody Have A Roadmap" macht deutlich, dass Slut mehr als nur den Verzicht von dem alten Laut-Leise-Spiel mit verzerrten Gitarren im Kopf hatten. Verschlungen und trotzdem melodiös windet sich die luftige und doch irgendwie schräg wirkende Nummer zwischen Popästhetik und Experimentierfreude. Die markante und samtige Stimme von Chris Neuburger mischt sich mit spaciger Elektronik während die klassische Rhythmussektion in einen hypnotischen Fluss spielt.
Aber keine Sorge, Slut können es immer noch, das Schreiben von Indie-Rockliedern mit der typischen Struktur. Die erste Singleauskopplung "Next Big Thing" scheint der Versuch eines Brückenschlags zwischen dem letzten Studioalbum "Still No1" und dem neuen Sounduniversum von "Alienation"zu sein. Vor allem der wundervoll sehnsüchtig schmachtende Mittelteil mit ausschließlich Gitarren, Schlagzeug und Gesang hakt sich sofort fest.
Aber das war es auch schon mit den Referenzen und Anknüpfungspunkten zur Indierockvergangenheit. Denn mit "Broke My Backbone" folgt der eigenwilligste und kurioseste Track des Albums. Ganze neun Stunden hat Chris Neuburger über sehr abstrakte elektronische Skizzen gesungen. Im Anschluss wurde alles editiert, verfremdet, moduliert und neu zusammengesetzt. Zwischen fiependen und nervös dahin trippelnden digitalen Beats macht sich nur schwer so etwas wie harmonisch markante Struktur aus. Aber das ist auch das Erfrischende. Denn Slut schaffen es so, eine Spannung zu erzeugen und das Interesse zu wecken, sich näher mit ihren neuen Songs zu beschäftigen. Und dafür wird man auch in Folge des Albums belohnt.
Viele Köche, ein leckerer Brei
Slut live in Österreich:
- 4. Oktober Waves Vienna Festival, Flex Wien
Die Gewohnheiten, mit denen gebrochen wurden, liegen nicht nur auf musikalischer Ebene. Zum ersten Mal durfte bei Slut jede musikalische Idee ernst genommen und verfolgt werden. Als nach vielen Monaten ein unglaublich bunter Songmix entstanden ist, haben sich die Ingolstädter verschiedene Produzenten für die verschiedenen Stücke gesucht und sind ein Jahr durch Deutschland von Studio zu Studio getingelt. Die Stationen waren Berlin, Hamburg, Weilheim und München und als professionelle altgediente Schräubchendreher standen unter anderem Tobias Siebert, Mario Thaler und Olaf O.P.A.L. hinter dem Studiopult. Dass "Alienation" trotz Abwechlungsreichtum eine stringente Platte geworden ist, liegt an den recht genauen Vorstellungen, die Slut zu jedem Song im Kopf hatten.

SLUT
Eine Nummer, die sofort heraussticht und deren Gitarrenakkorde tief berühren, ist "All Show", eine speedige Ballade zwischen theatralischer Trauer und ehrlicher Selbstanalyse. Eines der stärksten Stücke des Albums. Aber auch der Titelsong "Alienation" schafft es mit seiner reduzierten und sehr stillen Art Emotionen zu wecken, die wohl jeder schon einmal gehabt hat, geht es doch um die zwiespältigen Gefühle zur Heimatstadt, deren vertraute Umgebung einem manchmal Sicherheit vermittelt, oft aber auch ein Gefühl von "ich gehöre hier nicht hin" und Einsamkeit vermitteln kann. Ein Thema, das sich auch bei anderen Songs durch das Album zieht.
Bei dem psychedelischen Trip "Silk Road Blues" wird auch mit altbekannten Mustern und der selbstkritischen Frage nach Veränderung gespielt, während die Nummer mit Zitar-Soli und drogigem Sound in höhere Sphären abdriftet. Ebenfalls gelungen ist das recht trockene und reduzierte Stück "Deadlock", für das ein finnischer Folkmusiker, der im benachbarten Studio gerade seine Slide-Guitar spielte, eingeladen wurde. Am Ende von "Alienation" jedoch kranken die Songs ein bisschen an den überhöhten Ambitionen und die vorher recht kompakt erscheinende Platte beginnt auszufransen. Das Klavierstück "Holy End" schafft dann doch wieder die Kurve und hinterlässt einen mit dem Wunsch zurück, das Album noch einmal von vorne anzuhören. Zu vielschichtig und komplex ist das neue Slut-Werk, um nach einmal Durchhören all die Nuancen und wohl durchdachten, detailverliebten Strukturen wahrnehmen zu können.

SLUT
Nachdem in den letzten Jahren von unserem deutschen Nachbaren in Sachen Indie-Musik nicht allzu viel zu uns herüber geschwappt ist, ist "Alienation" ein herrlicher Lichtblick, ein eigenwilliger und gut gelungener Versuch einer Band, sich neu zu erfinden und gleichzeitig ihren ganz persönlichen Stil durchblitzen zu lassen. Klar erfinden Slut hier jetzt nicht das Rad neu, aber sie investieren viel Geduld, Mut und Gefühl, um genau jene Leidenschaft fürs Musikmachen zu vermitteln, die diese Band schon von Anbeginn ausgemacht hat. Und das muss man den Ingolstädtern in diesem schnelllebigen, undurchsichtigen und meist hohlen Business schon zugute halten.