Erstellt am: 26. 9. 2013 - 11:20 Uhr
Thomas Pynchon: Terrorzone Internet
Thomas Pynchon ist einer der wichtigsten US-amerikanischen Schriftsteller. In seinem neuen Roman "Bleeding Edge" beschäftigt er sich mit den beiden katastrophischen Brüchen der Jahrtausendwende, die bis heute Denken und Handeln der technokratischen Eliten der westlichen Welt bestimmen: Dem Untergang der "New Economy" und den Terroranschlägen des 11. Septembers.
Und das Buch ist ein Witz! Im ersten Drittel ist "Bleeding Edge" eine Sitcom im Schwerefeld irgendwo zwischen "Friends", "Dilbert" und Douglas Adams. Der Ort: New York. Die Zeit: Das Jahr 2001. Die Heldin, die auf Betrugsfälle spezialisierte Wirtschaftsermittlerin Maxine Tarnow schlägt sich mit wahnsinnigen Klienten herum und managt ihre Tetris-Familie, bestehend aus den beiden Söhnen Ziggy und Otis sowie dem missmutigen Trader Horst.
Thomas Pynchon: Bleeding Edge. New York 2013, 496 Seiten, gebunden, 17,95 Euro
Verschlüsselte Utopien
Außenrum bröckeln die letzten Reste des phantomatischen Wirtschaftswunders der New Economy. Nur zwei Unternehmen scheinen noch zu florieren: Die Sicherheitsfirma hashslingrz, deren Boss Gabriel Ice junge Hackertalente mit finsteren Tricks an sich bindet und sie dazu bringt, unaussprechliche Jobs für den militärisch-industriellen Komplex zu auszuführen.
Dann wäre da noch die 3-D-Parallelwelt DeepArcher (gesprochen: ‚Departure‘), von den jungen kalifornischen Genies Justin und Lucas erfunden, von Pynchon wie eine Art Mashup von Facebook und Second Life beschrieben, als ein Utopia, in dem sich jeder ausleben kann, die Essenz des Internets, gewissermaßen. DeepArcher wiederum ist von einem Verschlüsselungssystem geschützt, das Gabriel Ice unbedingt an sich bringen will.
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Cartoon-Finsterlinge und Agenten
Ice, ein Bösewicht wie aus einem Genndy-Tartakovsky-Cartoon, ist in mysteriöse Geldtransaktionen in den Nahen Osten involviert, denen Maxine auf die Schliche kommt, wobei sie wiederum Nicholas Windust begegnet, einem Vintage-Agenten eines nicht näher bezeichneten US-Geheimdienstes, der in den 1970er und 1980er Jahren dabei geholfen hat, in Lateinamerika diverse Diktatoren sowie die dazugehörigen neoliberalen Wirtschaftssysteme zu installieren. Diesem Old-School-Monster wiederum ist nur mit Hilfe eines klischeehaften Russenmafia-Trios beizukommen.
Mit "Bleeding Edge" paraphrasiert Pynchon seinen Roman "Vineland" von 1990. Auch in diesem Buch beschrieb er das harte Scheitern einer Gegenkultur - in diesem Fall jener der Hippies und Alternativmedienmacher der 1960er Jahre - an der enthemmten Brutalität des US-amerikanischen Sicherheitsapparats. Zeigte Pynchon damals den amerikanischen Nordwesten als eine Art Totenreich, das von schattenhaften Figuren, den Thanatoiden, bevölkert wurde, so übernimmt in "Bleeding Edge" das Internet diese Rolle. Logisch: Das Internet war einst der Neue Westen, nun ist es NSA County, ein verbranntes Land.
Hippies wie Hayden
Eine seiner Gegenkulturfiguren lässt Pynchon am Ende gar ähnlich argumentieren wie unlängst Ex-NSA-Chef Michael Hayden: Das US-Militär habe das Internet schließlich erfinden lassen, also könne es dort auch agieren, wie es ihm beliebe.
"Bleeding Edge" wurde von der Zeitgeschichte zu einem Artefakt geadelt, in dem Realität und Fiktion ineinander fließen. Pynchon konnte ja nicht ahnen, dass kurz vor Erscheinen des Buchs ein gewisser Edward Snowden seine eigenen paranoiden Tropen als kalte Fakten enthüllen würde. Dieser unwahrscheinliche Zufall geht mit Pynchons Erzählstrategie in eine ungute Resonanz. Er ist angetreten, das amerikanische Grauen zu bannen, indem er es als Farce darstellt. Aber nun, post Snowden, mutet es so an, als würde er in einem dunklen Keller lachen, den alle seine Leser schon bei eingeschaltetem Licht gesehen haben, der Autor kann seine Taschenlampe weglegen, den Plot seiner Pfadfinderlager-Gruselgeschichte hat bereits General Hayden erzählt. Ja, sogar die Literatur verpfuscht uns die NSA.
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Pynchon vs. Echtzeit-Stream
Dass in "Bleeding Edge" etwas zusammenkommt, was nur im Bösen zusammengehört, gilt auch für die Struktur des Texts. Bei der Lektüre des Buchs stellt sich beinahe unmittelbar das Gefühl einer unheimlichen Konvergenz ein, nämlich der von Pynchons hochverdichteter mit scheinbar arbiträren Referenzen durchsetzten Erzählweise mit dem Rest der medialen Ökosphäre.
Es ist, als ob die Realität mit Pynchon nun endlich Schritt halten, sie ihn gar überholen könnte. Pynchons Brain-Candy-Texte schmelzen nun in Zeitlupe auf der Großhirnrinde dahin, wir Leser sind heute Schnelleres gewohnt. Pynchon, der vor 30 Jahren noch als gefährlich irrer Textakrobat seine Zeitgenossen in Atem gehalten hat, wirkt heute wie ein onkelhafter Normalo. So wie er denkt und handelt heute jeder: In Sprüngen, Breaks und Saccaden des mentalen Fokuspunkts. Sein Schicksal ähnelt darin dem eines anderen Autors, den die Zeit auf perfide Weise eingeholt hat, indem sie seine Visionen voll validierte: dem Cyberspace-Erfinder William Gibson.
Buch vs. Gesamttext
Kann es ein Einzelautor, auch ein Gigant wie Pynchon, überhaupt noch mit einem Schwarm kongenialer Twitterfreaks und Blogger aufnehmen? Ein halbwegs guter Abend im Stream funktioniert genau so wie "Bleeding Edge": Schnelle harte Sprüche von Co-Nerds, Links in die abgefahreneren Gegenden des Webs, Ideen, Gags, Artikel, todernste Hintergründe, alles innerhalb weniger Sekunden überlagert und aktualisiert, ein nachglühender Palimpsest im neuronalen Netz. Kann der als Roman formatierte Elektrotext im Kindle-Fenster noch mit dem aufmerksamkeitsheischenden Toben in Browsern und Messengern ringsrum mithalten?
"There's a party in my mind... And it never stops", sangen einst die Talking Heads. Wegen seines Kopierschutzes kann auch der Pynchon-Text nur über Umwege mit der großen Brain Party im Netz in Resonanz gehen. Die Binnenkomplexität des hochverdichteten Texts steht gegen die im Netz nun endlich greifbare monströse Selbst-Erzählung.
Dekompression im Rezipienten
Pynchon nimmt in "Bleeding Edge" diese Herausforderung an. Der Roman ist ein ZIP-File, das sich im Gehirn des Lesers auf tausendfache Größe dekomprimiert. Maxine ist eine wunderbare Heldin, die schnellen und trockenen Dialoge mit ihren Freunden und Feinden könnten direkt aus dem Stream sein, Pynchon trifft den Tonfall im Netz genau, hat Techsprech recht gut recherchiert. Zumindest im ersten Drittel hält Pynchon das Tempo, dann, nach Schilderung des 11. Septembers, bricht die Spannung häufig weg, die Handlung zerfällt, als ob der Autor auf die eigene Erzählung keine Lust gehabt hätte. Der Text spiegelt damit aber auch die Ratlosigkeit der Ära. Wenn das Buch eine Botschaft haben sollte, dann eine erzkonservative: Matrilineare Bindungen sind dicker als Wasser und stabiler als alle anderen Links.
"Bleeding Edge" ist keiner der "großen" Pynchons wie "V", "Mason & Dixon" oder "Against the Day", aber für den Autor markiert es einen möglichen Wendepunkt. Die eigene Erzähltechnik ist ausgereizt. Was kommt nun? Die Fans dürfen gespannt sein. Für alle anderen gilt: "Bleeding Edge" lesen und lachen. Denn im geistigen Permafrost der Dauerkrise sollte man für jede Wunderkerze dankbar sein.