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Andreas Schindler

Geschichten vom Ende des Ölzeitalters. Wurm- und Mikrobenlobbyismus, permakulturelle Gedankenwut.

22. 9. 2013 - 09:00

Der letzte Wilde

Der Rothwald ist Österreichs letzter Urwald und mindestens 12.000 Jahre alt. Wo er sich versteckt? Dort, "wo die ordnende Hand des Menschen nicht hinkommt."

Es regnet nicht. Es kübelt. Nach wenigen Augenblicken ist unsere Gruppe klatschnass. Der Himmel ist tiefgrau, die Temperatur niedrig und die Knie zittern. Ja, es ist Mitte August. Und nein, die Stimmung ist nicht gut. Und das, obwohl wir gleich – nach eineinhalbjähriger Wartezeit – das seltene Privileg genießen werden, den einzigen Urwald Mitteleuropas betreten zu dürfen. Nur unser Rudelführer, Ranger Hans Zehetner, steht lässig, kurzärmlig und vor allem trocken unter seinem knallbunten Regenschirm. Seine Stimme kämpft tapfer gegen den wild trommelnden Regen an: "Seit der letzten Eiszeit wurde der Rothwald, das rund 450 Hektar große Herzstück des Wildnisgebietes, das wir gleich betreten werden, kaum vom Menschen genutzt. Also seit mindestens 12.000 Jahren." Donnerbedingte Sprechpause. "Das ist schon eine unwahrscheinlich lange Zeit." Donner. Noch mehr Regen. Verdammte Natur.

Zwölf. Tausend. Jahre. Urwald. In Niederösterreich?

"Ich bin bereits seit 1997 als Ranger im Wildnisgebiet Dürrenstein tätig", sagt Hans Zehetner, zweifellos ein Rothwald-Experte, dessen Schritt und Blick verrät, dass er sich hier – wetterunabhängig – wohlfühlt. "Der nachweislich älteste Baum im Wildnisgebiet, eine Eibe, ist mindestens 1.000 Jahre alt. Wahrscheinlich älter. Die steht da oben…" Der Ranger weist mit der Spitze seines Wanderstocks in Richtung Dürrenstein. Der Wanderstock sei übrigens auch aus Eibenholz. "Den habe ich mir selbst gedrechselt", sagt Hans und fügt dann hastig hinzu "aber bevor jemand fragt, das Holz ist natürlich nicht aus unserem Wildnisgebiet! Da nimmt man gar nix raus."

Bunter Wald im Nebel

Hans Glader / Wildnisgebiet Dürrenstein

Das Wildnisgebiet Dürrenstein beheimatet den flächenmäßig größten Naturwald Österreichs. Pflanzensoziologisch ist der insgesamt 4km² große Rothwald ein Fichten-Tannen-Buchenwald und trägt damit das für den nördlichen Kalkalpenrand typische, ursprüngliche, natürliche Pflanzenkleid. Zwischen Fichten, Tannen und Buchen entdeckt man aber auch Bergahorn, Bergulmen und Eiben. Seit der letzten Eiszeit ist dieser Wald von Axt und Motorsäge verschont geblieben ist. Es ist Österreichs einziges "Strenges Naturreservat" der Kategorie 1a der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN). Gemäß deren Richtlinien muss dieses Schutzgebiet "von jeglicher Nutzung" ausgenommen werden. Kein Holz darf heraus-, und kein Tourismus hineingebracht werden. Die wenigen Führungen, die die Schutzgebietsverwaltung laut Vereinsstatuten anbieten muss, sind bis 2016 ausgebucht. "Nur der Wildbestand darf, ja, muss hier reguliert werden", erklärt der Ranger. Denn aufgrund der gängigen Praxis der Zufütterung gebe es in der direkten Nachbarschaft des Wildnisgebiets einen deutlich zu hohen Wildbestand. Jedes Jahr wird daher von drei Rangern erhoben, wie groß die Wildschäden sind. Im Zweifelsfall wird dann mit dem Gewehr für einen "natürlichen" Bestand gesorgt. "Aber das Schießen ist nix für mich", merkt Hans an, "das machen die Kollegen."

Eule

Christoph Leditznig / Wildnisgebiet Dürrenstein

Österreichs Wälder werden seit Jahrtausenden genutzt und sind dadurch verglichen mit ihrem Naturzustand stark verändert. Deshalb gibt es heute nur mehr sehr wenige und kleine Urwaldbestände. Der größte österreichische und zugleich mitteleuropäische Urwald heißt Rothwald, liegt zwischen 950 und 1.600m Höhe auf der Südseite des Dürrenstein (bei Gaming), und ist rund 450 Hektar groß. Das Naturschutzgebiet ("Rothwald I+ II+III und Hundsau") wurde 2013 um 1.052 Hektar erweitert. Das nicht zugängliche Schutzgebiet umfasst heute 3.500 Hektar.

Dass es den Rothwald, dieses unwahrscheinliche Stück Wildnis, heute überhaupt gibt, ist der menschenfeindlichen Topografie der Gegend, purem Zufall, Streitsucht aber auch der Weitsicht eines jagdverliebten Milliardärs zu verdanken. Der Rothwald ist schwer zugänglich, seine Fließgewässer führen zuwenig Wasser, als dass man Baumstämme damit transportieren hätte können. Zudem war dieser wild gebliebene Wald ewiges Streitobjekt zwischen den Kartäusermönchen in Gaming und dem Stift Admont. Nachdem Joseph II. die Kartäuser enteignet hatte, erwarb 1875 Albert Rothschild aus der berühmten jüdischen Bankiersdynastie 13.000 Hektar des Gebiets. Er beließ dabei den unzugänglichen Teil, den heutigen Rothwald, in seinem jahrtausendealten Urzustand.

Viele seiner Zeitgenossen fanden das … nun ja: irre. Denn im naturbelassenen Rothwald zeige sich "nicht ungezügelte Üppigkeit, romantischer Gestaltenreichtum und Lebensfrische, sondern Leichenhof, gebrochene Kraft, Verfall und Modergeruch (…) Verkommenheit, wie überall dort, wo die ordnende Hand des Menschen nicht hinkommt." Diese Worte notierte sich im Juni 1869 ein Lehrer der Forstakademie Mariabrunn, nachdem er den Urwald begutachtet hatte. Albert Rothschild dagegen erkannte, dass dieser vergleichsweise winzige Flecken Wildnis besonders wertvoll war. Nur zur Jagd wollte er ihn nutzen und tat das dann auch leidenschaftlich gerne. 1942 arisierten die Nazis den "urgermanischen Wald", den sie im Rothwald sehen wollten, und erklärten ihn zum Naturschutzgebiet. 1947 bekam ihn die Familie Rothschild (die bis heute Grundeigentümer ist) restituiert. Seit 1997 ist der Urwald nun dauerhaft von jeglicher Nutzung ausgenommen. "Und so lange wir ein Rechtsstaat sind", freut sich Ranger Hans "wird das auch so bleiben".

Panorama von Bergen und Wald

Christoph Leditznig / Wildnisgebiet Dürrenstein

So fragwürdig ein Naturschutzgedanke sein mag, der Natur nur dort vermutet, wo der Mensch nicht ist, so richtig erscheint die Entscheidung, den Menschen vom Rothwald fernzuhalten, angesichts der Seltenheit solcher Flächen. Österreich ist zwar reich an sogenannten Wäldern, "aber wie viel Urwald haben wir? Das bewegt sich im Promillbereich", sagt Hans.

Erst seit kurzem kennt unsere Kultur so etwas wie Naturschutz, das heißt die Vorstellung, dass "die Natur" etwas Schönes, vielleicht eine Art Freund(in), jedenfalls etwas Erhaltenswertes ist. Ganz im Gegenteil war unsere Kultur lange Zeit davon geprägt, die nicht ungefährliche Natur möglichst draußen zu halten, sie abzuwehren. Unsere Siedlungen haben wir 10.000 Jahre lang mit Begrenzungen vor der Wildnis geschützt. Erst als nur noch Zäune übrig waren, aber keine wilde Natur mehr, die es draußen zu halten galt, änderte sich das. Es ist bezeichnend, dass Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Naturschutzgebiete ausgerechnet im "wilden Westen" in Nordamerika abgesteckt worden sind.

In die Gebiete der heutigen Yosemite & Yellowstone Nationalparks interpretierten Exil-Europäer urtümliche und somit schützenswerte Unberührtheit. Sie übersahen dabei, dass die Ureinwohner Nordamerikas diese Wälder sehr wohl genutzt und somit mitgestaltet hatten. "Die Wälder von Yosemite & Yellowstone sind keine Urwälder, sondern Wälder in einer unkolonisierten Gegend. Für die letzten 'Wilden', die Indianer Nordamerikas, legte man Reservate an. Das Seltsame an diesem Vorgehen: Nun wurde nicht mehr die Zivilisation mit einem Zaun versehen, sondern die unkolonisierte Wildnis. Der Zaun umgab die Nationalparks genauso wie die Reservate." (Hansjörg Küster; "Geschichte des Waldes")

Dass der Rothwald, der seit 12.000 Jahren tatsächlich nicht von Menschen genutzt worden ist, noch heute als "unberührt" gilt, ist jedenfalls Alfred Rothschild zu verdanken. Dieser habe die Idee des Naturschutzes aus den USA mitgebracht, erzählt uns Ranger Hans. Inspiriert von der Gründung der ersten Nationalparks, Yosemite & Yellowstone, verfügte Alfred Rothschild, dass auch Teile seines Waldes mehr oder weniger sich selbst zu überlassen seien. "Der Rothschild hat also sehr modern gedacht, was damals aber kaum wer verstanden hat", meint Hans. Er ist jedenfalls froh, dass der Bankier 1875 so gehandelt hat, denn "wer hat schon einen Urwald vor der Haustür?" Überhaupt genieße die Familie Rothschild hier immer noch großes Ansehen. Man habe nicht vergessen, dass die Rothschilds an damaligen Maßstäben gemessen sehr viel soziales Engagement für ihre (Holz-)Arbeiter, deren Familien und Gemeinschaften zeigten. Es gab – völlig unüblich – Pensionskassen, eine geregelte Witwen-, Alten- & Krankenversorgung, ein Kinderheim und kostenloses Schulessen. Die großen Finanzreserven der Familie erlaubten es ihr außerdem, auf eine rücksichtslose Ausbeutung der vorhandenen Ressourcen zu verzichten. Historiker befinden, dass sich die Rothschild-Domänen durch eine schonende und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete, also wiederum moderne Bewirtschaftung auszeichneten.

Umgestürzter Baum über einem Bach.

Hans Glader / Wildnisgebiet Dürrenstein

Unsere Gruppe steht derweil auf etwa auf 1.000 Metern Seehöhe. Die Wolken kennen kein Mitleid. Hans auch nicht. "Ja", sagt er, "menschenfreundlich ist unser Wildnisgebiet nicht gerade". Bis Anfang Juni liege hier oft noch so viel Schnee, dass man mit dem Auto nicht hinkommt. "Heuer bin ich in der zweiten Junihälfte noch steckengeblieben!" Acht bis zwölf Meter Neuschnee pro Winter, eine Mittlere Jahrestemperatur von 3,9 Grad Celsius und einen Niederschlag von 2.300 Millimeter pro Jahr. "Wer mit solchen Zahlen nix anfangen kann: Das ist viel!" Zum Vergleich: Wien hat weniger als 550, Graz 820 Millimeter/Jahr. Das erklärt dann wohl auch den Regenschirm.

Es gilt, ein unschönes Neidgefühl zu unterdrücken, während es fröstelnd im Dauerregen weitergeht. Vorbei an von dicken Schneedecken bizarr geformten Baumstämmen, immer tiefer in den Wald hinein. Wege gibt es hier nicht. Dafür aber überraschend wenig Unterholz. Das dichte Blätterdach der uns umgebenden Buchen lässt kaum Licht zum Boden durchdringen. Bei einem kümmerlichen Fichtenbäumchen bleibt der Regenschirm wieder stehen. Die kaum hüfthohe Pflanze sieht gar nicht gut aus. Die unteren Zweige sind mit einem schwarz-braunen Pilz-Myzel überzogen, eingesponnen und verklebt. "Der Baum ist zwar klein, aber sicher schon 30 bis 35 Jahre alt. Der Schneeschimmel hat ihn erwischt und die befallenen Zweige sterben jetzt ab. Erst 35 Jahre und schon so gut wie tot. In schneereichen Lagen wie der unseren ist das aber keine Seltenheit. Nur wenige Bäume können richtig groß werden."

Wie groß, erleben wir eine gute Stunde später. Mittlerweile sind wir in der Kernzone des Wildnisgebietes angelangt: Wildnisgebiet der Kategorie I. Seit der Eiszeit kaum (und schon gar nicht merklich) vom Menschen genutzt. Unsere Gruppe steht unter einer 60 Meter hohen Fichte. Stammdurchmesser? "Etwa zwei Meter." Offene Münder. "Das ist der größte gemessene Baum im Rothwald", sagt Ranger Hans.

Nur wenige Schritte weiter entfernt liegt so ein 500 bis 700 Jahre alt gewordener Gigant am Boden. "Aus Aufzeichnungen wissen wir, dass diese Tanne hier schon seit über hundert Jahren liegt. Und es wird noch mindestens weitere 200 Jahre dauern, bis sie endgültig zu Erde geworden sein wird." Überhaupt: Das viele Totholz mache den Rothwald erst zu etwas ganz Besonderem, "was viele Besucher aber übersehen", fügt Hans in einem etwas bedauernden Ton hinzu. "Viele denken bei Urwald an Lianen und grüne Üppigkeit. Das gibt es hier nicht." Dafür aber eine einzigartige Vielfalt an Pilzen, Moosen, Flechten und seltenen Tieren. Das Auerhuhn lebt hier, der Dreizehenspecht, der Alpenbock ... manchmal wandern sogar Braunbären von Slowenien bis in das Wildnisgebiet. "Für Zoologen, Botaniker und Forstwissenschaftler ist der Rothwald wirklich von großem Interesse!", stolzer kann eine Ranger-Stimme nicht klingen.

junges Pflänzchen auf Totholz

Hans Glader / Wildnisgebiet Dürrenstein

Der Autor bedankt sich herzlich bei Georg Schramayr, Irene Blasge, Hans Zehetner & DI Dr. Christoph Leditznig für die Realisierung dieses Artikels.

Dutzende Jungbäume versuchen ihr Glück auf einem modrigen Stamm. Sie wurzeln direkt auf den von Schwämmen übersäten Überresten ihrer Ahnen. Sie werden versuchen, mit ihren Wurzeln den toten Baumstamm zu umschlingen, um an den Waldboden zu gelangen. Wer sich umsieht, entdeckt viele Bäume mit sogenannten Stelzenwurzeln. Ein Hinweis darauf, dass auch sie einst auf einem toten Vorfahren wuchsen. "So etwas sieht man nur in einem naturbelassenen Wald", erklärt Hans. Also quasi nirgendwo.