Erstellt am: 17. 9. 2013 - 17:00 Uhr
Schlachthaus Welt
Frictional Games
Die Maschine dröhnt unter unseren Füßen, ein ins Erdinnere wachsendes Gebäude gigantischer Ausmaße. Schwere Schwungräder drehen sich, Zahnräder greifen ineinander, Dampf zischt, Fließbänder rattern, in gewaltigen Drainagerohren gluckern trübe Flüssigkeiten: Öl, Wasser, Blut, Exkremente. Mittendrin in diesem titanischen Industriebau, in dem die Lichter flackern und riesige Maschinenhallen still stehen, irren wir in Gestalt des Erbauers dieser wahnwitzigen Höllenmaschine herum, die eigentlich, irgendwie, einmal als unser Schlachthaus begonnen hat, in dem Fleisch für die Bewohner Londons des Jahres 1899 verarbeitet wird. Als wir zu Beginn von "Amnesia - A Machine for Pigs" erwachen, können wir uns an die vorangegangenen Monate nicht mehr erinnern - und nur ein Abstieg in die monströsen Hallen unter unserem Haus wird klären, was in dieser Zeit mit uns und unseren zwei Söhnen geschehen ist.
Frictional Games
Subtiles Grauen statt Schockmomenten
Es ist ein Experiment: Frictional Games, die schwedischen Entwickler des unverschämt erfolgreichen Indie-Horrorspiels "Amnesia - The Dark Descent", gaben für den Quasi-Nachfolger das Heft aus der Hand und ließen The Chinese Room unter der Leitung von Dan Pinchbeck seine ganz persönliche Vision des Horrors verwirklichen - ein origineller Franchise-Staffellauf, der aufs Beste die oft drohende Sequel-Stagnation verhindert. Fans des Vorgängers seien darum gleich vorab gewarnt: Nein, das "Amnesia" des "Dear Esther"-Machers Dan Pinchbeck ist keine einfache Fortsetzung des Bewährten, und nein, "A Machine for Pigs" hält in Sachen unmittelbarer Horror und Schockeffekte nicht mit dem Erstling mit. Das macht aber nichts, denn das Grauen, das "A Machine for Pigs" beschwört, nistet sich tiefer in seinen Spielern ein als die zugegeben meisterhaft inszenierten Horror-Erlebnisse des Originals.
Wer also nur nach mehr des atemlosen Schreckens des Vorgängers gesucht hat, wird möglicherweise vom spielerisch streng entschlankten "Machine for Pigs" enttäuscht sein. Einige Spielelemente, die für den unnachahmlichen, hundertfach auf YouTube dokumentierten Schrecken von "Dark Descent" verantwortlich waren, wurden ersatzlos weggekürzt: Die "Sanity"-Effekte, die den Verlust der geistigen Gesundheit des Protagonisten illustrierten, sind verschwunden, ebenso wie die Notwendigkeit, sich vor den Monstern zu verstecken - diesemal reicht Flucht oder Vorbeischleichen. Auch die Manipulation von Gegenständen wurde streng eingeschränkt, genauso wie das Ressourcenmanagement in Form von Lampenöl oder Zündhölzern.
Schweine wie wir
Der Soundtrack zum Spiel aus der Feder von Jessica Curry kann übrigens hier komplett bezogen werden.
"A Machine for Pigs" ist somit weniger Fortsetzung als vielmehr Neuinterpretation des Themas "First-Person-Horror". Statt mehr vom selben zu bieten, stürzt uns Teil zwei des düsteren Adventures in einen bedrückend albtraumhaften Strudel des Grauens, der seine Wirkung nicht wie in "Dark Descent" durch seinen unmittelbaren, fast körperlichen Schrecken entfaltet, sondern durch Zwischentöne, Andeutungen, Bilder, Atmosphären und vor allem zwei Elemente, die sich wie schon in "Dear Esther" zu einem unvergleichlichen Ganzen vermengen: Zum einen fasziniert erneut Dan Pinchbecks poetische, düster-verrätselte Sprache, die in Tagebucheintragungen, Dialogen und auffindbaren Dokumenten "A Machine for Pigs" zu einem höchst literarischen Spiel machen - und zum anderen überwältigt Jessica Curry mit einem beeindruckenden und bedrückenden orchestralen Soundtrack, der blanken Schrecken, subtiles Grauen und komplexes Wahnsinnspathos fast körperlich erfahrbar macht. Im Ernst: Selten lebte ein Spiel so sehr von der Musik - Kopfhörer sind schwerstens zu empfehlen.
Dan Pinchbecks Story verbindet schon oberflächlich Symbolträchtiges zu einem vielschichtigen und uneindeutigen Werk, das, wie schon "Dear Esther", klare Antworten schuldig bleibt und stattdessen die Interpretation des Spielers als fehlenden Baustein miteinbezieht: Die Ästhetik der Industrialisierung, menschenleere und entmenschlichte Fabriksmaschinen, das Datum des Geschehens - Silvester 1899 - als düsterer Vorabend des Zeitalters der Extreme, die Schweine, wie der Mensch Allesfresser, Opfer und Monster zugleich, die aberwitzige Logik des unmenschlich Bestialischen, die Banalität des Bösen, Verweise auf die Komplizenschaft von Wissenschaft, Wirtschaft und Wahnsinn, Mythos und Größenwahn, Krieg und Kapitalismus, industrialisierter Mord und mörderische Industrialisierung - war "Dear Esther" eine Meditation in Spielform, die sich erst im Kopf des Spielers zusammensetzt, ist "A Machine for Pigs" ein meisterhaft errichteter Albtraum, der, ganz der Traumlogik entsprechend, seinen Schrecken auch eben der Fragmentierung, der Irrationalität und Undurchdringlichkeit verdankt.
Frictional Games
Ein Albtraum zum Spielen
Man sieht: "A Machine for Pigs" fordert intensiv zur Interpretation auf, gerade weil es (im Unterschied zu leider viel zu vielen anderen Spielen) klare Antworten schuldig bleibt - dafür hallen auch nach Ende der etwa sechs Stunden langen Story die verstörenden Bilder und Themen nach. Das setzt allerdings schon eine gewisse Bereitschaft beim Spieler voraus, sich mit dem Gebotenen auseinanderzusetzen: Wer ohne auf Texte und sorgfältig ausgebreitete Details zu achten durch die Gänge rast und rein mechanisch von einem simplen Schalterrätsel zum nächsten stürmt, wird unweigerlich enttäuscht werden. Der Schrecken, den The Chinese Room hier meisterhaft ausbreitet, lebt von subtiler Verunsicherung und drohender Vorahnung weit mehr als von Schockmomenten.
"Amnesia - A Machine for Pigs" ist für Windows, Mac und Linux erschienen.
Reine Adrenalinjunkies, die dem handfesteren Horror des Vorgängers oder überhaupt vergleichsweise simplen Jump-Scares nachtrauern, seien auf "Outlast" verwiesen - in diesem Indie-Schocker regiert verlässlich die handfeste Horrormechanik des Slashergenres. Vergleichen lassen sich beide, trotz thematischer und spielmechanischer Nähe, allerdings nicht: "Amnesia - A Machine for Pigs" verhält sich zu "Outlast" wie Stanley Kubricks "The Shining" zu "Hostel". "Amnesia - A Machine for Pigs" beweist, dass der in "Dear Esther" demonstrierte Gameplay-Minimalismus Bestand hat. Ein außergewöhnliches Spiel, das lange nachhallt.