Erstellt am: 10. 9. 2013 - 07:03 Uhr
Reflektor
Ich weiß nicht, ob es Euch ähnlich geht, aber mich lässt der virale Rummel rund um Leaks und gezielte PR-Aktionen im Vorhof eines anstehenden Releases mittlerweile ziemlich kalt. Vorgezogene Single-Veröffentlichung von Lady Gaga, Kanye West als überdimensionales Stadtbild, kryptische Zahlenspiele und Codes als Ankündiger für einen neuen Arcade Fire Song. Am Ende kollidieren all diese geschaffenen „Erlebnisse“ in den bis zum Stillstand rasenden Timelines unserer Aufmerksamkeit.
Merge
Also her mit der Musik! Gestern, am – hui – 9.9. um 9 Uhr abends war es so weit. Nach gefühlten 100 Emails der Plattenfirma mit der nachhaltigen Bitte um keine voreiligen Verschüttungsaktionen, wurde ein neues Stück der kanadischen Himmelstürmer simultan in die Weiten des Äthers und Netzes entlassen.
Dass nun die Rezeption auch in einschlägig verdächtigen Publikationen der Musik dem ersten Vorboten zum Ende Oktober erscheinenden Album kaum eine Zeile widmet, liegt wahrscheinlich an den zwei relativ spektakulären Videos und Trailers zur Single. Ein Clip ist interaktiv, was mittlerweile Tradition hat bei Arcade Fire (vgl. „Sprawl II“ und „We Used To Know“), kann aber nur unter Verwendung eines bestimmten Browsers abgerufen werden.
Doch „Reflektor“, so der Name der Single (und auch des kommenden Albums) benötigt eigentlich keinen rasselnden Konvoi. Wer den Song „Sprawl II“ von der Vorgängerplatte „The Suburbs“ als heimlichen Hit des Albums ins Herz geschlossen hat, wird bei „Reflektor“ vor Freude tanzen und das im wahrsten Sinn des Wortes. War „Sprawl II“ eine Fantasie davon, wie ABBA als Indie-Reinkarnation im Hier und Jetzt klingen könnten, zieht es Arcade Fire erneut auf den Dancefloor zu den reflektierenden Disco-Kugeln.
Ex-LCD-Soundsystem Maestro James Murphy, der für gewöhnlich seinen Anteil bei Fremdproduktionen herunterspielt, hat „Reflektor“ (s)eine unverkennbare LCD-Soundarchitektur verpasst. So stampft monoton ein Grundbeat durch den Track, während die Congas in luftigen Höhen jubilieren und der Bass Takt für Takt steil anzieht. Der Chorus wird vom zweitgrößten AF-Fan nach David Byrne, nämlich David Bowie, verstärkt, was aber schon etwas weniger ins Gewicht fällt als die Murphy-Zutaten.
Das Schöne an dieser Super-Collabo: Arcade Fire klingen trotz fremder Hilfe und neuer Federn noch immer wie Arcade Fire. Herz, Hirn, Lungen, alles ist intakt. „Reflektor“ bauscht sich im Laufe seiner fast achtminütigen Existenz zu dem gewohnt emotionalen Rauschen auf, das fast alle Songs der Kanadier charakterisiert, auch wenn es nun in den Baumwipfeln elektronisch raschelt. Win und Regine wechseln sich singend ab, er in Englisch, sie auf Französisch. Im regulären Video sitzen sie im Fond eines alten Lastwagens und steuern durch ein Film-Noir-Setting, begegnen einem Reflektormann, einer lebenden Discokugel und sich selbst in Pappmaché-Masken. Die Stammeskollegen an den Instrumenten schalten sich nach und nach zu. Die Minimalelektronik wächst sich zu einem Monumentalorchester aus.
Am Ende landen AF erneut im Hafen ihres Schaffens „Where No Cars Go“, das macht Lust auf mehr:
"Entre la nuit, la nuit et l’aurore.
Entre les royaumes, des vivants et des morts.
If this is heaven
I don't know what it’s for
If I can’t find you there
I don't care"