Erstellt am: 9. 9. 2013 - 18:16 Uhr
Sterbende Götter: Die Geheimdienst-Theodizee
In seinem jüngsten Text für die FAZ skizziert der ehemalige Sprecher des Chaos Computer Clubs den Griff nach der Macht durch die Geheimdienste. Sein Argumentationsmuster bewegt sich dabei entlang des Hauptthemas der klassischen BBC-Serie "Yes, Minister": Machtbewusste Bürokraten entziehen sich jeder Form von Verantwortung und Kontrolle durch die Protagonisten der Politik, die alle paar Jahre ausgetauscht werden und in jeder neuen Iteration an Intelligenz, Geschicklichkeit und Brutalität einbüßen.
Die Geheimdienste, so Rieger, bleiben und wachsen, dringen mit den totalitären Tools des Netzwerkzeitalters immer tiefer in das Alltagsleben der Menschen ein, vollführen einen Militärputsch in Zeitlupe.
Neverland-Ranch der Geheimdienste
Die über den Coup des Edward Snowden nur teilweise ans Licht gekommenen Fakten deuten darauf hin, dass diese Maschinerie nun am Höhepunkt ihrer Macht angekommen ist. Wie das neueste Portrait des NSA-Chefs General Keith Alexander im US-Magazin "Foreign Policy" zeigt, ist es dem Dienst durch dessen politisches Geschick gelungen, die wesentlichen Kontrollmechanismen des US-Kongresses auszuhebeln und sich mit einer erklecklichen Menge an Steuergeldern eine Art Neverland-Ranch für Netzwerkspionage aufzubauen - ein der "Enterprise"-Brücke nachempfundenes Kontrollzentrum inklusive.
Will die NSA einen bestimmten Computer knacken, schreibt der renommierte US-Sicherheitsexperte Bruce Schneier, dann wird sie das auch schaffen. Die Geheimdienste, suggerieren die Berichte des "Guardian" und anderer Medien, die sich aus dem Fundus der Snowden-Dokumente bedienen können, sind überall, in jeder kleinsten Ritze, wenn sie wollen, saugen sie auch die intimsten Informationen aus Smartphones und Sozialen Netzwerken ab, wehe der Generation, die ihre Erlebnisse Facebook anvertraut, die Dienste werden sich auch in Jahrzehnten noch aus dieser Giftmüllhalde der Erinnerungen bedienen können, um Menschen gefügig zu machen.
Das Ende einer Machtmechanik
Die Machtmechanik funktionierte bisher so: Jeden neuen Anschlag oder Anschlagsversuch irgendwo auf der Welt nutzten die Dienste und ihre Verbündeten in der Politik dazu, ihre Befugnisse auszuweiten. Nun ist das System aber überdreht. Alle Regeln der parlamentarischen Demokratie, sämtliche Gesetze und Verfassungsbestimmungen scheinen gebrochen und ignoriert, sämtliche Datenbanken und Betriebssysteme geknackt. Die NSA ist offenbar überall.
Aber: Mehr geht nicht. Wenn die NSA in den westlichen Industriestaaten tatsächlich an die Stelle der Figur des monotheistischen Gottes, des allwissenden und gütigen Beschützers, der Ur-Vaterfigur, getreten ist, dann wird sie auch deren historisches Schicksal erleiden. Neue Anschläge werden seit den Snowden-Enthüllungen nun nicht mehr zu automatischem Machtzuwachs führen, sondern zu unbequemen Fragen. "Wenn ihr schon alles dürft und alles könnt und alles wisst", so wird es heißen, "Warum habt ihr den Anschlag dann nicht verhindert?" Die Geheimdienste werden es also mit der Theodizee-Frage zu tun bekommen.
Hier aber endet die Analogie mit dem Numinosen auch schon. Niemand betet die NSA an, man könnte dies höchstens von den IT-Götzen behaupten, deren Sammelwut sich dieser "Dienst der Dienste" vortrefflich zu bedienen versteht: Apple, Google, Microsoft, Facebook. Und wenn die NSA eine Kirche haben sollte, dann ist es eine, die aus jenen Menschen besteht, die sie trotz aller Warnungen komplett ignorieren.