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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

29. 9. 2013 - 12:27

Slumdog Bildungsroman

Mohsin Hamids "So wirst du stinkreich im boomenden Asien" ist trotz des marktschreierischen Titels eines der brillantesten Bücher des Jahres.

Du wirst irgendwo in einem namenlosen Land, das Pakistan ähnelt, geboren. Liegst einige Jahre später an einem kalten, tauigen Morgen fröstelnd unter der Pritsche deiner Mutter auf der gestampften Erde. Das Weiß deiner Augen ist gelb, die Folge eines erhöhten Bilirubinspiegels in deinem Blut. Das Virus, das dich befallen hat, heißt Hepatitis. Sein typischer Übertragungsweg ist fäkal-oral. Lecker.

Irgendwie überlebst du das Ganze, deinem Vater ist es egal, deine Mutter hat schon mit den anderen Kinder genug zu tun. Als junger Bursche überlebst du, indem du illegale DVDs am Schwarzmarkt verkaufst. Du triffst das schöne Mädchen, das an Filmen interessiert ist. Aber nicht an dir. Es ist ein Hundeleben, das du führst.

Junge in Pakistan

flickr.com/photos/sadiediane

"Du"

Zoom in

"So wirst du stinkreich im boomenden Asien" Cover

Dumont

Moshin Hamid: "So wirst du stinkreich im boomenden Asien" ist 2013 in deutscher Übersetzung von Eike Schönfeld bei Dumont erschienen

Wir haben es mit einem Selbstanleitungsbuch zu tun. Die Geschichte unseres namenlosen Heldens ist die unsere, Mohsin Hamid macht das allzu deutlich. Von der ersten Seite an wird der Leser konsequent in die Rolle des namenlosen Helden geworfen, dem es gelingt vom armen pakistanischen Jungen zum Geschäftstycoon aufzusteigen. Und zwar durch das wohl teuerste Gut der Welt: Wasser. Mit Tafelwasserprodukten macht sich unser "du" rasch einen Namen, viel Geld, aber auch eine Menge Feinde. Vor allem, da "du" anfängt zu pantschen: Er lässt Leitungswasser abkochen und verkauft es teuer an die Wirte. Diese Idee ist in Pakistan nicht neu, auch andere versuchen sich an diesem Geschäft. Und Revierkämpfe werden hier brutal ausgetragen.

Dazwischen ist die Liebe. Das "schöne Mädchen" (auch sie hat keinen Namen) begleitet unser "du" bis zum Ende seines Lebens. Immer wieder gibt es sexuelle Eskapaden mit ihr, zu einer wahren Innigkeit kommt es nur am Rande. Aber sie ist da, und nach fast achtzig Jahren Lebensgeschichte, nach Anti-Korruptionsuntersuchungen und Morddrohungen gegen unser "du" (das nun wirklich stinkreich geworden ist), begegnet sie ihm wieder. Das Ende wird nicht verraten.

Zoom out

So ungeschickt die Einführung der zweiten Person als Erzählperspektive anfangs wirken mag, so genial ist sie. Der pakistanische Schriftsteller Mohsin Hamid mag in unseren Breitengraden nicht bekannt sein, der in Princeton und Harvard Studierte wird aber regelmäßig für literarische Großpreise nominiert. Zu recht: Denn allein durch diese Erzählperspektive kann Hamid in das Leben seines Helden hineinzoomen und uns intime und persönliche Einblicke in das "du" gestatten. Und sowas gibt es kaum in der Literatur, kennt man seit Jay McInerneys "Bright Lights, Big City" (verfilmt mit Michael J. Fox) nicht mehr. Trotzdem wirkt alles wie im Zeitraffer, knapp 80 Lebensjahre auf etwas mehr als 200 Seiten.

Mohsin Hamid

Dumont

Mohsin Hamid

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Aber jetzt lassen wir die literarische Aufgeilung mal beiseite. Das ist ein wunderbares Buch, fast schon transzendental angehaucht. Immer wieder spricht Hamid von einem "Selbst", das in dieser Geschichte aufleben soll, so weit sie dem eigenen Lebensumständen als Leser auch entfernt sein mag. Die Methode des Selbsthilfebuches (jedes Kapitel hat einen "Tipp" als Überschrift) ist flüchtig und ironisch. Hamid zeichnet ein Bild einer modernen Welt, einen Bildungsroman auf einem Kontinent, der kaum beschrieben wird, aber wie ein großer Moloch aus Abermillionen Menschen das ganze Weltgeschehen, ja unser "Selbst" mitbestimmt.

Es ist ein bisschen "Slumdog Millionaire" und ein wenig "The World According To Garp". Und dadurch eine große metaphorische Abhandlung der schwindelerregenden ökonomischen Veränderungen Asiens, aber auch eine zutiefst berührende Liebesgeschichte.

Kurzum: eines der besten Bücher des Jahres.