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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

6. 9. 2013 - 18:38

I spy with my little eye

Das multimediale Ars-Electronica-Spektakel "Wir sind Hier" kratzt am dicken Fell des kontrollierten Kollektivs.

FM4 bei der Ars Electronica

Vom 5. bis 9. September in Linz. FM4 überträgt live am Samstag, den 7. September

  • FM4 Reality Check Spezial (12-13 h)
  • FM4 Connected Spezial (13-17 h)

Alle Stories unter fm4.orf.at/arselectronica13

Der erste Abend am Ars Electronica Festival in Linz: Ein Esel steht einsam am Eingang der Tabakfabrik. Der sind wir und "Wir sind Hier". Dem Esel wird gemeinhin nachgesagt, ein blödes Tier zu sein. So dumm und faul wie wir, weil wir uns gegen die multiplen Überwachungsinstanzen nicht zur Wehr setzen?

Daniela Derntl

I Ah!

Für Salvatore Vanasco, dem künstlerischen Leiter von Wir sind hier, ist der Esel besonders wichtig: "Der Esel ist das Symbol des sturen, nicht aus der Bequemlichkeit herausgehenden Tieres. Und mein Eindruck ist im Moment, dass der Großteil der Bevölkerung genau diesem Aspekt fröhnt, nämlich aus der Komfortzone gar nicht mehr heraus zu gehen und einfach zu akzeptieren, dass sie ihre Persönlichkeitsrechte gegenüber Großkonzernen und Staaten abgeben."

Daniela Derntl

Robert Glashüttner, Gerlinde Lang und Simon Welebil am Red Carpet.

Die Besucher der Tabakfabrik kommen über einen roten Teppich und müssen sich bereits am Eingang entscheiden, ob sie überwacht werden wollen oder nicht. Das Publikum entscheidet sich für den Eingang Accept oder Deny. Das Ganze leitet sich laut Vanasco von den verschiedenen Online-Diensten und Apps ab, bei deren Installation oder Verwendung man Persönlichkeits- und Bildrechte automatisch abgibt. Um diese nicht ungefährliche Selbstverständlichkeit zu illustrieren, trifft bei "Wir sind Hier" das Ego auf sein digitales Alter-Ego: zahlreiche Überwachungskameras filmen das Publikum und werfen ihr überdimensionales Konterfei auf eine Wand der Tabakfabrik.

Auf der größten Kinoleinwand des Landes wird dem Publikum ein Spiegel vorgehalten und trotz der anfänglichen Verstörung, sich selbst zu sehen, nimmt das narzisstische Gefallen überhand: Die Menschen winken und freuen sich, "im Fernsehen" zu sein, obwohl ein grünes Fadenkreuz auf sie gerichtet ist. Doch nicht die Tatsache überwacht zu werden zermürbt den Betrachter, sondern die Dauer der Aktion. Es ist eine gefühlte Ewigkeit.

Simon Welebil

Gotcha! Ich bin im Fadenkreuz der Überwacher.

Diese sogenannte "Target Area" ist eine Verschränkung von Unterhaltung und Überwachung. Der zweite Akt heißt "Don't Hesitate" und präsentiert eine Tanz-Performance zu der Musik von FM Einheit. Der Einstürzende-Neubauten-Mann und Noise-Künstler arbeitet gerne mit ungewöhlichen Tonquellen wie Metallblechen, Steinen, Sand und Stahlfedern: "Mein Cello besteht aus großen Stahlfedern und um sie zum Schwingen zu bringen reicht eben ein Cello-Bogen nicht aus. Deshalb verwende ich eine Bohrmaschine."

Daniela Derntl

FM Einheit bei der Arbeit.

Zwischen den Musikeinlagen werden Zitate von AutorInnen wie Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Irmgard Keun, B. Traven und Bertolt Brecht gelesen, deren Bücher 1933, also genau vor achtzig Jahren, von den Nazis verbrannt wurden. Diese Bücherverbrennung wurde mit einer Feuershow inklusive Ascheregen und einer Tanzperformance visualisiert.

Simon Welebil

Simon Welebil

Ein bisschen Horrorshow: Sind das Quadrocopter oder Drohnen? Oder Aliens?

Das Publikum wurde hier nicht via Spiegelung in das Cross-Media-Projekt eingebunden, sondern konnte sich schon vor dem Happening in der Tabakfabrik einbringen. Entweder als TeilnehmerIn beim Protestchor, bei dem die UserInnen das Gedicht "Gegen Verführung" von Bertold Brecht via Webcam rezitierten. Man konnte aber auch "Töne der kulturellen Zerstörung" via Soundcloud zum Gesamt-Kunstwerk beisteuern, die FM Einheit in seine Klangkollage vor Ort integriert hat: "Ich habe auch einen Mitschnitt von dem Justin-Bieber-Konzert in der Wiener Stadthalle bekommen, der mit einem Handy aufgenommen wurde. Das Ganze ist komplett übersteuert und verzerrt und ein wahrer Klang der kulturellen Zerstörung."

Daniela Derntl

Eine andere Partizipationsmöglichkeit war die demokratische Skulptur, bei der die Besucher nicht mehr gebrauchte Datenträger wie Bücher, Schallplatten, CDs und Festplatten, abgeben konnten.

Simon Welebil

Das Konzert von FM Einheit bildet durch seine zentrale Aufmerksamkeits-Architektur den Höhepunkt des Abends. Danach löst sich das Besucherkollektiv auf. Jeder ist auf sich selbst zurück geworfen und strandet auf der Suche nach Unterhaltung über den Hof der Tabakfabrik.

Den Abschluss bildet der sogenannte "Citizen Square" mit acht Experten-Ständen im Hof der Tabakfabrik, die über die Rechte des Bürgers versus die Rechte des Staates in verschiedenen Ländern informieren. Darüber hinaus gibt es noch einen Speakers Corner, Videos von den Protesten am Tahir Platz, im Gezi Park sowie von den Unruhen in London vor zwei Jahren; Fotos von Barack Obama, Edward Snowden und kleinen Kindern.

Daniela Derntl

Überwacht da Jemand?

"Wir sind Hier" war ein überladenes Spektakel, es gab viel zu sehen und zu hören. Fragen wurden nicht beantwortet, dafür sind unsichtbare Mechanismen aufgezeigt worden. Die Reaktionen des Publikums auf die langwierige Überwachungssequenz war überraschend brav. Fast wie der Esel am Eingang!