Erstellt am: 4. 9. 2013 - 14:39 Uhr
Lesung am Volksstimmefest
In unserer Familie wurde "Kommunist" als ein dreckiges Wort verwendet. Die Kommunisten erlaubten uns nicht, das Land zu verlassen, sie bekamen riesige Löhne, Wohnungen und hohe Posten, nur weil sie Mitglieder der Partei waren. Als die Lebensmittelgeschäfte leer waren, bekamen die Kommunisten Sonderlieferungen. "Was soll man mit den Kommunisten machen? Den Kopf bis zum Gürtel runter abschneiden!", sagte mein Vater. Nicht dass er jemanden tatsächlich geschlachtet hätte, er könnte nicht mal einem Huhn den Hals umdrehn.
Darüber denke ich nach, als ich langsam mit der Straßenbahn zum Volksstimmefest in den Wiener Prater fahre. Dort soll meine erste Lesung als junger österreichischer Autor stattfinden. Wenn man Vater mich jetzt sehen könnte, würde er mir meinen Kopf abschneiden wollen?“, frage ich mich. Ich habe überhaupt keine Meinung über die österreichischen Kommunisten. Bis vor einer Woche habe ich nicht einmal gewusst, dass sie existieren. Ich fühle mich trotzdem geschmeichelt, dass sie mich auf ihr Fest eingeladen haben. Vielleicht haben meine Texte, die den Problemen der Migranten gewidmet sind, etwas mit ihrem politischen Programm zu tun.

Volksstimmefest / Facebook
Ich erkenne das Volksstimmefest am Wurstgeruch, der über dem ganzen Park schwebt. Ich werde sofort von allen Seiten von Menschen attackiert, die Solidarität mit der Kommunistischen Partei in Guatemala, Solidarität mit der Kommunistischen Partei in Kolumbien oder mit der Kommunistischen Partei in Kurdistan verlangen. Ich erinnere mich an ein sehr steiles Dach im Berliner Stadtteil Kreuzberg, wo jemand mit zwei Meter großen Buchstaben "Lang lebe die türkische Kommunistische Partei!" geschrieben hatte. Man muss der Partei schon sehr treu sein, um auf dieser steilen Fläche dieses Riesengraffiti zu kreieren und dabei sein Leben zu riskieren. Nach fünf Minuten am Volksstimmefest werden meine Hände voll mit allerlei Flugblättern, periodisch erscheinenden Zeitschriften und sämtlichen Zetteln, die die Weltrevolution und den Zusammenschluss des Proletariats gegen das ausbeuterische Kapital beschwören.
Der Wurst- und Grillfischgeruch erfüllt meine Sinne. Ich habe seit gestern nichts gegessen. Das unterdrückte Proletariat isst gemütlich und genießt einen der letzten warmen Tage dieses Sommers. Mein Magen knurrt. Ich finde die Bühne, wo die Lesung stattfinden soll. Es ist eine Sache, vor dem Mikrofon im Radio etwas vorzulesen, eine andere, das vor lebenden Menschen zu tun. Ich versuche ihnen in die Augen zu sehen. Die meisten haben eine Sonnenbrille auf.
Alles verläuft gut, keine einzige Tomate fliegt mir entgegen. Eine weißhaarige Dame sagt sogar, sie sei begeistert gewesen und dass sie meine Texte weiterverfolgen werde. Ich werde von irgendeinem Medium interviewt und sie fragen mich, ob ich die politische Lage ändern will. Ich nuschle irgendwas davon, dass das Ziel von Kunst nicht die Veränderung der Gesellschaft sei, sondern ihre Mitglieder zum Nachdenken zu bringen.
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Auf der Bühne rezitiert ein etwa 70-jähriger proletarischer Poet feurig etwas über den Klassenkampf. Eine jüngere Kollegin von ihm liest danach ein Pamphlet gegen die Konsumgesellschaft aus ihrem Smartphone vor. Ich habe kein Smartphone. Ich habe nicht mal eine U-Bahn-Karte. Ob diese Leute ihr Leben riskieren würden, um "Lang lebe die KPÖ!" auf das Dach des Stephansdoms zu schreiben? Was wissen die denn überhaupt vom Kommunismus? Ich fühle mich als der einzige Proletarier am Volksstimmefest. "Proletarier aller Länder, lernt euch kennen!"