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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

14. 9. 2013 - 16:09

Die Aktie "Fick"

Clemens Meyer mausert sich mit seinem mächtigen Rotlicht-Roman "Im Stein" zum derzeit besten deutschsprachigen Autor.

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In den Straßen und Gassen von Eden City herrscht Sodom und Gommorha. Hier wimmelt es von allerlei gescheiterten Existenzen, Dealern, Säufern, Knastbrüdern, Zuhältern und Prostituierten. Eden City ist ein einziges Rotlicht-Milieu, beherrscht von den Selfmade-Männern der deutschen Wiedervereinigung wie Arnold "Arnie" Kraushaar. Er weiß, dass nur jene überleben, die sich auch weiterbilden, daher prügelt er sich nachts mit der Revier-Konkurrenz und geht tagsüber auf die Uni. Dort studiert er Marktanalysen, Managementstrategien und Steuermodelle. Insgesamt gehören ihm nun einige hundert Laufhäuser, in denen Prostituierte ihren Geschäften nachgehen, während Kraushaar eifrig die Scheine zählt.

Kraushaar steckt mitten drin im boomenden Rotlicht-Markt in den Neunzigern. Die Mauer ist gefallen, die Grenzen offen und aus dem Osten strömen Sexarbeiterinnen in die deutschen Bundesländer. Der Markt floriert, lange vor dem Online-Boom, und es scheint, als sei das "älteste Geschäft der Welt" so hoch im Kurs wie nie zuvor.

Das ist die Welt, in der sich Clemens Meyer, der Autor, sichtbar wohlfühlt. Und irgendwie auch Clemens Meyer, die Figur.

Rotlichtmilieu

flickr.com/Lilund

Markt und Moral

Clemens Meyer "Im Stein" Cover

Fischer

Clemens Meyer: "Im Stein" ist 2013 bei Fischer erschienen

Eine zusammenhängende Handlung mag man diesem Roman nicht zuerkennen. Vielmehr ist es ein Panoptikum an Stimmen, das hier im Dunkel der Nacht seine Geschichten erzählt. Die Minderjährige, die sich in Donald Duck-Hefte flüchtet, um zu vergessen, was Männer mit ihr anstellen. Die Prostituierte, die davon träumt eine Tochter zur Welt zu bringen und dafür zuvor mit Anschaffen an das nötige Kleingeld kommen will. Oder der Mann, der früher Jockey war, der sich nun aber durchs Milieu schlägt, um seine verlorene Tochter zu suchen. Oder eben auch Arnie Kraushaar, der Selfmade-Pimp, der im Handel mit der "Aktie Fick" das beste Geschäft aller Zeiten erkennt. Und natürlich auch das namenlose Pendant von Clemens Meyer, das immer wieder durch die Zeilen spukt und die Frage aufwirft, was hier Fiktion und was autobiografisch ist.

Eine Schattenwelt ist dies nicht wirklich mehr. Denn Meyer erzählt in seinen Kurzepisoden von einem Geschäftsmodell, das längst halb im Licht der Öffentlichkeit vollzogen wird. Das gesetzlich nur unbefriedigend geregelt ist und moralisch noch immer von den Meisten verurteilt wird. Bis zum OGH-Urteil 2012 galten in Österreich Verträge über sexuelle Dienstleistungen sogar als sittenwidrig. Nun spricht Meyer, der autobiografische Meyer, von Deutschland irgendwo zwischen Dresden und Leipzig, wo inbesondere im Osten bis zu 200.000 Prostituierte arbeiten, eine überwiegende Mehrzahl stammt aus dem Ausland.

Gewalten

Schon in seinem Buch "Gewalten. Ein Tagebuch" riss Clemens Meyer die Kluft zwischen Realität und Fiktion auseinander, beschrieb, wie er selbst an ein Bett gekettet ist und auf seinen Peiniger wartet. Nun ist es wieder er selbst - er mit den Tattoos am ganzen Körper, der früher am Bau gearbeitet und Hartz IV bezogen hat. Clemens Meyer ist auf den ersten Blick der "Anti-Literat", in der Mundart schreibend, wütend, kompromisslos, dafür bekam er dann doch den Preis der Leipziger Buchmesse.

Clemens Meyer

Clemens Meyer

Nun hat es "Im Stein" auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 geschafft und es würde nicht verwundern, wenn da noch mehr folgt. Clemens Meyer kommt mit seiner gestochenen Sprache Realitäten ein Stückchen näher. Früher habe ich ihn mit Haneke verglichen, Ulrich Seidl oder Jörg Fauser scheinen ihm jedoch näher. Einer, der quälende Poesie mit Komik und abstoßenden Bildern vermischt, alles erzählerisch in einem Labyrinth verschachtelt und dabei gleichzeitig nichts weniger zu werden scheint, als der beste deutschsprachige Autor der Gegenwart.