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Veronika Weidinger

4. 9. 2013 - 13:43

Arm in einem reichen Land

Wenn der Satz "Wir haben kein Geld" das ganze Leben und Denken bestimmt.

Undine Zimmer, 32, ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie beherrscht vier Fremdsprachen, hat im Ausland gelebt, hat einen Uni-Abschluss, jahrelang gejobbt, prekär gearbeitet. Während einer Hospitanz bei der ZEIT schreibt sie erstmals über ihre Erfahrungen mit Armut, aus diesem vielbeachteten Text ist das Buch "Nicht von schlechten Eltern" entstanden. Dem Journalismus hat Undine Zimmer inzwischen den Rücken gekehrt, ihre erste - befristete - Festanstellung hat sie in einem anderen Bereich gefunden. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie damit den Stress um die finanzielle Basisversorgung los.

Der österreichischen Notstandshilfe entspricht in Deutschland das Arbeitslosengeld II, besser bekannt als "Hartz IV". Ein Begriff, der bei vielen eine Kette von ganz bestimmten Assoziationen und Bildern in Gang setzt.

"Viele denken heutzutage bei Hartz IV schneller an aggressive Penner als an unterbezahlte Arbeiter, alleinerziehende Mütter, arbeitslose Akademiker, Schüler in Ausbildung oder kranke, arbeitsunfähige Leistungsbezieher. Dabei machen diese Gruppen mehr als die Hälfte der 4,43 Millionen Empfänger von Hartz IV aus. Mehr als die, auf die das Stereotyp des lästigen 'Hartzers' möglicherweise passen könnte."

Undine Zimmers Eltern sind sogenannte "Hartzer", Langzeitarbeitslose, die als schwer integrierbar in den Arbeitsmarkt gelten - mit den verbreiteten Vorurteilen sehen auch sie sich konfrontiert. Diesen Pauschalisierungen setzt die 32-jährige Deutsche ihr Buch entgegen: "Nicht von schlechten Eltern - meine Hartz-IV-Familie".

Haferflocken und Granny Smith

Prägende Geschmäcker in Undine Zimmers Kindheit sind die von Haferflocken und Granny Smith. Die waren immer vorrätig - die Flocken verwendete die Mutter als gesunde Basis für allerlei Gerichte, die Äpfel gab's bei Lust auf Süßigkeiten, nicht etwa weil die Mutter Schokolade verpönt, sondern aus finanziellen Gründen. Das Geld ist immer knapp.
Die Wohnungseinrichtung setzt sich aus wenigen der einfachsten Ikea-Regale zusammen, Bücher werden ausgeliehen, die gemeinsame Unternehmung am Nachmittag oder sonntags ist in all den Jahren: Spaziergehen. Die Mutter gönnt sich nichts und schränkt sich enorm ein, ihr ist wichtiger, dass sie zumindest der Tochter Perspektiven eröffnen kann, sie bringt ihr Literatur und klassische Musik näher, ermöglicht Musik- und Ballettunterricht. Die Mutter hätte gern studiert, die Tochter soll es wirklich tun können.

Familienfiguren auf Geldscheinen und Münzen

dpa/Andreas Gebert

Eine klare und genaue Kalkulation ist in allen Lebensbelangen notwendig. Das hat den Kindheitsalltag von Undine Zimmer bestimmt und ist, wie die Autorin im Gespräch meint, typisch für Menschen, die mit sehr wenig Geld auskommen müssen.

"Man schießt sich auf bestimmte Dinge ein, die kauft man, die kalkuliert man und außerhalb dieses sicheren Rahmens, den man sich da baut, da auch hinüberzugehen, da ist die Hürde ganz groß. Das gilt aber auch für kulturelle Veranstaltungen, für Kinobesuche - man weiß nicht, ob der Film wirklich so gut ist, wie man sich's erhofft - und dann kommt diese Dynamik, dass man ganz oft Dinge nicht macht, weil man einfach diese Kalkulation im Kopf hat, dass man da ein Experiment macht, bei dem man vielleicht Verlust macht und das Geld dann irgendwo fehlt. Das ist ein Risiko, das man nicht eingehen will."

In ihrem Buch "Nicht von schlechten Eltern - meine Hartz-IV-Familie" schafft es die junge Autorin, das Spannungsfeld zu vermitteln, in dem ihre Eltern, vor allem ihre Mutter tagtäglich agieren und in dem sie sich als junge Erwachsene selbst wiederfindet. Undine Zimmer beleuchtet mit ihren Erzählungen, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen Armut wirkt, wie sie sich bemerkbar macht und was sie verhindert.

Unsicherheit und Ohnmacht

"Aber letztlich geht es bei 'kein Geld' gar nicht ums Geld, sondern um Mobilität, Teilhaben am sozialen und kulturellen Leben, um Identität und Selbstbewusstsein."

Mit mangelndem Selbstbewusstsein, mit Versagensängsten und Ohnmachtsgefühlen hat Undine Zimmer selbst immer wieder zu kämpfen, in der Schulzeit, auf der Uni. Sie kennt das von ihren Eltern. Von deren Notizen und Tagebucheinträgen haben einige Eingang ins Buch gefunden, etwa wenn der Vater über eine mühsame, wochenlange "Odysee durch das Jobcenter Wunderland" schreibt. Thema ist also auch die strukturelle und institutionelle Ebene, auf die Menschen in existentiellen Nöten - nicht nur in Deutschland - angewiesen sind, die Schnittstellen zum System.

Undine Zimmer selbst hat auch das "andere Leben" kennengelernt, in dem Ostern ein großes Familienfest mit Geschenken und gutem Essen ist, wo am Sonntag ein Ausflug gemacht wird, wo Kinder auch zwischendurch mal kleine Geschenke bekommen. Familien ihrer Freundinnen und Freunde haben sie wohlmeinend daran teilhaben lassen - ein Entgegenkommen, das nicht nur Freude, sondern auch Unbehaglichkeit verursacht hat. Das Gefühl, eigentlich nicht dazuzugehören, und die Scham, wenn zwischen Nehmen und Geben kein Gleichgewicht herrschen kann.

Wenn es um die Zukunft geht, wird die Herkunft wichtig

Cover von "Nicht von schlechten Eltern"

S. Fischer

"Nicht von schlechten Eltern" ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Die Auseinandersetzung mit der Herkunft, mit der Kindheit, den Eltern und wiederum deren Geschichte ist unglaublich offen. Es tue ihr auch weh, wenn sie manche Stellen liest, erzählt die Autorin im Gespräch, gleichzeitig war es ihr wichtig, auch die positiven Momente zu zeigen, woher Kraft und Hoffnung kommt.

"Das Größte, was mir meine Mutter in meinem Leben geschenkt hat, ist die Fähigkeit, mich über kleine Dinge sehr zu freuen. So wie sie selbst und auch mein Vater es kann. Eine Geste, auch Zeit ist für mich ein Geschenk, kostbarer als eine teure Uhr."

Undine Zimmer selbst hat nach ihrem Abitur, das sie in Schweden absolviert hat, in Berlin studiert und Publizistik abgeschlossen. Während eines Volontariats bei der "ZEIT" hat sie sich zum ersten Mal publizistisch mit ihrer Geschichte und der ihrer Eltern beschäftigt, aus dieser Arbeit ist schließlich ihr Buch entstanden.

Weitere Literaturempfehlungen

Zahlen und Forschung zu Armut fließen immer wieder mal in den Text ein und machen deutlich, dass Armut zwar als Randgruppenproblem betrachtet wird, aber immer mehr in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Undine Zimmer nimmt aber davon Abstand, auch im Interview, Forderungen zu formulieren, die Politik zu kritisieren.

Sie hat die Fähigkeit und Möglichkeit, ihre Geschichte, die Perspektive der Betroffenen zu erzählen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als Sprachrohr für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger will Undine Zimmer sich dennoch nicht sehen. Mit ihrem Buch berichtet sie genau, reflektiert und bewertet nicht - sie stellt ihre Geschichte und die ihrer Eltern zur Verfügung. Es sind wichtige Einblicke und ein guter Input, um falsche Vorurteile und Denkmuster zu hinterfragen.

FM4 Interview Podcast

Das ganze Gespräch mit Autorin Undine Zimmer zum Nachhören

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