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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

22. 9. 2013 - 12:11

Hausfrauen mit Uniabschluss

In ihrem Debütroman erzählt Francesca Segal vom jüdischen Leben im vornehmen Nordwesten Londons. Die Kritiken überschlagen sich. Leider muss man sich über diese Milieustudie aber ziemlich ärgern.

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Arglos ist einer, der nichts Böses ahnt, der etwas naiv und weltfremd, aber gleichzeitig voller Zuversicht ist. Einer, der nach dem Motto "Wird schon alles gut gehen" lebt. Adam, der Protagonist in Francesca Segals hochgelobten Debüt, ist so ein Argloser.

Mit seinen 28 Jahren arbeitet er in der Anwaltskanzlei seines Schwiegervaters in spe und steht kurz vor der Hochzeit mit seiner Langzeitfreundin Rachel. Seit 12 Jahren sind die beiden bereits ein Paar und führen ein behütetes Leben in der jüdischen Gemeinde im vornehmen Hampstead Garden Suburb im Nordwesten Londons. Ihre gemeinsame Zukunft scheint gesichert: Heirat, Kinder, Ruhestand.

Buchcover Die Arglosen

Kein & Aber Verlag

"Die Arglosen", im englischen Original "The Innocents", ist in der Übersetzung von Verena Kilchling im Kein & Aber Verlag erschienen.

Er fühlte sich nicht zur Konformität gezwungen, sondern passte sich freiwillig an die Mehrheit an, erwarb Bräuche und Traditionen im Abo, die ihm lebenslang die Unterstützung und den Schutz der jüdischen Gemeinde sicherten. Er hatte das ganze Programm gebucht, und dass alle seine Freunde aus Kindertagen dasselbe getan hatten, bestätigte ihn in seiner Entscheidung. Jeder von ihnen führte eine zufriedene Beziehung, war verheiratet, verlobt oder so gut wie verlobt.

Doch als Ellie, die Cousine seiner Verlobten, unerwartet aus Manhattan zurückkehrt, ändert sich alles für Adam.

Plötzlich zweifelt er an seiner Beziehung und fragt sich, ob sein Leben nicht aus mehr bestehen sollte als aus einer steten Abfolge von Feiertagsfestessen, Urlauben in Israel und dem Klatsch allgegenwärtiger Mutterfiguren. Er ist fasziniert von Ellie und ihr sofort verfallen. Sie verkörpert in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil seiner Verlobten.

Rachel ist klein, mollig und verwendet viel Zeit auf Körperpflege und die Suche nach dem passendes Outfit. Ellie ist groß, burschikos und sieht in ihrem vernachlässigten Look trotzdem immer umwerfend aus. Rachel legt größten Wert auf gesellschaftliche Etikette. Ellie pfeift auf Konventionen. Rachel reicht ihre Rolle als Frauchen. Ellie ist eine Intellektuelle. Außerdem umweht sie ein Hauch von Glamour und etwas Geheimnisvollem. Hinter ihrer toughen Fassade ist sie verletzlich, und Adam findet, dass sie beschützt werden muss, auch wenn sie mit ihren erst 21 Jahren bereits wesentlich unabhängiger und weltgewandter ist, als Adam es je war.

Ellie hatte es nicht leicht gehabt. Als sie acht Jahre alt war, starb ihre Mutter in einem Bombenattentat in Tel Aviv. Ihr Vater nahm sie daraufhin mit nach New York, ließ sie aber in seiner Trauer verkümmern. Später modelte sie, nahm Drogen und ließ sich von älteren Männern aushalten. Als sie schließlich in einem Porno mitspielt, fliegt sie von der Uni und kehrt zurück in den Schoß der Großfamilie. Im sittsamen Nordwest-London wirkt sie nun wie ein heruntergekommener Paradiesvogel im Hühnerstall. Ein Lockvogel, der Adam in Versuchung führt. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er andere Möglichkeiten, als seine guten wie schlechten Zeiten an der Seite seiner einfältigen Jugendliebe zu verbringen.

Buch gewordene Romantic Comedy

Vor diesem Hintergrund liest sich Francesca Segals Debüt wie eine Buch gewordene Romantic Comedy. Schon das Setting, der Mikrokosmos der jüdischen Community, der um traditionelle Wertvorstellungen und schwarzen Humor kreist, mag Außenstehenden vielleicht klischeehaft vorkommen: Das Figurenrepertoire kommt nicht ohne die leicht schräge Großmutter aus, die ständig andere für "meschugge" erklärt, jedes Sabbatmahl wird ausführlich beschrieben und es fallen eine Menge selbstironische Kommentare über die eigene Religion.

Segal ist selbst Jüdin und schöpft in ihren Schilderungen aus eigenen Erfahrungen. Sie ist im selben Milieu wie ihre ProtagonistInnen aufgewachsen. In einem Interview in der Vogue sagt sie sogar, dass in ihr sowohl ein Stückchen Ellie als auch ein Stückchen Rachel steckt. Um ihre Karriere als Schriftstellerin zu starten, ist sie nach Manhatten gezogen, nur um daheim in London den Jungen von Nebenan zu heiraten.

Autorenporträt Francesca Segal

Alicia Savage

Francesca Segal, geboren 1980 in London, hat schon für den Guardian, die Financial Times oder die Huffington Post geschrieben. "Die Arglosen" ist ihr erster Roman und hat ihr jede Menge Preise eingebracht.

Dass Segal in ihrem Roman die Perspektive genau so eines jungen Mannes einnimmt, kehrt diesen Kontrast in ihrer Biographie umso deutlicher hervor.

An Adams Beobachtungen zeigt sich, wie sehr die Frauen im Buch zwischen Rollenbildern aus dem 19. Jahrhundert und liberaler Weltoffenheit schwanken.

Es handelte sich ausschließlich um "nette jüdische Mädchen", von denen es in Adams Umfeld nur so wimmelte, moderne junge Frauen, die oft hoch intelligent und ebenso ehrgeizig waren, starke geradlinige, intellektuell unabhängige junge Damen. (...Sie alle) waren ein Widerspruch in sich, und dass sie es nicht bemerkten, kam wirklich einem Wunder gleich. Lucy Wilson war dafür das perfekte Beispiel. Sie hatte in Oxford promoviert und arbeitete als Klinikärztin und Wissenschaftlerin am University College Hospital, aber Adam wusste genau, dass ihr größter Traum darin bestand, Mrs. Noah Cordova zu werden. Wie so viele andere junge Frauen, war sie ein Zwitterwesen mit dem Kopf einer Onkologin und dem Herz einer Schtetl-Tochter.

Für solche durchaus reflektierten Zustandsbeschreibungen hat Francesca Segal ausschließlich wohlwollende Kritiken geerntet. Sie wurde kritisch und weitsichtig genannt, ja sogar als neue Zadie Smith gehandelt. Diese Lorbeeren erklären sich auch daraus, dass Segal mit "Die Arglosen" eine Neuversion des Upper-Class-Dramas "Zeit der Unschuld" von Edith Warton aus dem Jahr 1920 gewagt hat. Ein Bezugspunkt, der in dem, was sich heute "neues Biedermeier" nennt, offensichtlich voll ins Schwarze trifft.

Trotzdem überrascht es, dass sich die Schriftstellerin alle Chancen auf eine wirkliche Aktualisierung des Stoffes vergibt und im Jahr 2013 allen Ernstes kein anstrebenswertes Gegenmodell zum aufopfernden Weibchen entwirft.

Der einzige weibliche Charakter, der einen anderen Weg als die Hausfrauenkarriere einschlägt, ist Adams Schwester. Sie ist Lektorin an der Universität - dafür stets schlecht gekleidet und ewiger Single. In der Gemeinde gilt sie als bemitleidenswertes Sorgenkind. Ja selbst Ellie, eigentlich Ikone der Unkonventionalität, wünscht sich insgeheim nichts sehnlicher als bürgerliches Familienglück - und dann hat Segal nicht mal die Chuzpe, sie darum kämpfen zu lassen. Stattdessen opfert sie sie auf dem Altar der gesellschaftlich abgesegneten Verbindung zwischen Adam und Rachel.

So etwas zu lesen, ist einfach nur ärgerlich und für eine international renommierte Literatin eine erstaunlich biedere Botschaft.