Erstellt am: 27. 8. 2013 - 15:13 Uhr
Das Buch für die einsame Insel
T.C. Boyle Fans kennen die Kanalinseln bei Santa Barbara aus seinem Roman "Wenn das Schlachten vorbei ist".
Eine Inselgruppe, die Boyle zwar von seinem Wohnhaus aus sehen kann, die ansonsten aber in den Staaten nicht besonders bekannt ist, obwohl sie 1980 in einen Nationalpark umgewandelt wurde. Dieser gilt allerdings als der am wenigsten besuchte, denn um hinzukommen müsse man seinen Kopf über die Reling eines Bootes hängen und sich eineinhalb Stunden übergeben, erläutert T.C. Boyle knapp. Das Meer dort sei sehr rauh.
Auf einer einsamen Insel zu leben, nach eigenen Ideen, Vorstellungen und Gesetzen schwebt doch irgendwie allen vor - nicht nur Misanthropen, erzählt Boyle. Und so waren auch die Inseln einige Zeit Teil des großen amerikanischen Siedlertraumes "Go West!".
Aber westlicher ging es nicht mehr und folglich war der Traum spätestens dort für einige zu Ende.
Jamieson Fry
Im Zuge seiner Recherchen für "Wenn das Schlachten vorbei ist" stieß Boyle auf zwei Tagebücher, die beide auf der westlichsten Insel San Miguel geschrieben wurden. Beide von Frauen, die nur mit ihrer Familie auf der Insel lebten. Die eine 1888, die andere während der Depression in den 1930er Jahren. Beide Frauen waren 38 Jahre alt, als sie auf die Insel kamen. Beide waren sie mit Kriegsveteranen verheiratet. Und beide haben sich bemüht, das Leben auf dieser Insel irgendwie erträglich zu machen. Auf einem nicht mal vier Hektar großen von Schafen kahlgefressenem baumlosen Eiland.
Geradezu rührend, wie die Frauen den Häusern eine Seele einhauchen wollen, Bilder aufhängen, Vorhänge nähen und Wind und Wetter trotzen.
T.C. Boyle erzählt in drei Teilen jeweils aus der Sichtweise einer Frau - dabei hat er sich bemüht "die historischen Fakten so wahrheitsgetreu wie möglich darzustellen."
Marantha
Viking Adult
"Sie hustete, immer hustete sie, und manchmal hustete sie Blut."
Hustend erreicht Marantha Waters mit ihrem Mann, ihrer Adoptivtocher Edith und einem Hausmädchen am Neujahrstag 1888 San Miguel.
Ihre Besitztümer auf dem Festland haben sie verkauft und alles Geld in die Schafzucht gesteckt. Sie wollen in diesem natürlichen Paradies ihr Glück finden – v.a. aber soll Marantha von ihrer Tuberkulose genesen.
Vom Paradies ist Marantha aber weit entfernt. "Soviel wusste sie jedenfalls: Sie wollte nicht hier draußen sterben. Das Leben hier erschien ihr wie das Fegefeuer."
Edith
So richtig zur Hölle wird das Leben auf San Miguel dann für Edith, die auf der Insel regelrecht gefangen gehalten wird. "Hatte Lincoln nicht die Sklaven befreit? Hieß dieses Land nicht Amerika?"
Zwei Knechte und ihr Stiefvater sind die einzigen Männer auf der Insel - der Alltag fernab von kulturellem Leben ist für die junge Frau eine Qual.
"Auf einer Ranch gab es keine Damen und Herren – es war ein Leben auf dem Niveau verkleideter Affen, die kürzlich erst von den Bäumen gestiegen waren. Wer sich über Poesie oder Dramen oder Musik unterhalten wollte, wer erwartete, dass ein Mann einem die Tür aufhielt oder aufstand, wenn man den Raum betrat, sollte besser sterben und in einem neuen Leben wiedergeboren werden."
Elise
Hanser Verlag
Erst als Elise 1930 mit ihrem Mann nach San Miguel auswandert, scheint endlich jemand Glück zu haben. Thoreaus "Walden" lässt grüßen. In heimeliger Einsamkeit meistert die Jungfamilie ihren Alltag.
Mittlerweile sind nicht nur die Boote schneller - die Distanz zum Festland wird auch durch Funk und Radio verkürzt. Plötzlich findet man auf dem Festland Gefallen an dem einsamen Inselleben. Ein Reporter will vorbei kommen und die Aussteigerfamilie porträtieren. Elise ist skeptisch.
'Ich weiß nicht', sagte sie schließlich. 'Ganz ehrlich – ich glaube, es ist keine so gute Idee.'
'Keine gute Idee?' Er sah sie ungläubig an. 'Wie meinst du das? Wir kommen in die Zeitung – wir werden berühmt.'
Sie zuckte die Schultern. 'Das meine ich ja gerade.'
Tatsächlich wird die Familie Lester in Folge in den Zeitungen und Magazinen herumgereicht und erlangt eine gewisse nationale Berühmtheit.
Der Bericht über "Swiss Family Lester" im LIFE Magazine vom 1. April 1940
'Die Menschen waren von der Wirtschaftskrise gebeutelt und fürchteten sich vor dem nahenden Krieg, sie wollten etwas Schönes sehen und ließen sich gern von dem Idyll ablenken, das die Zeitungen präsentierten, wobei der Schweiß und die Mühsal, das Improvisieren und Knausern natürlich unerwähnt blieben.'
Diese Artikel waren eine der Quellen für diesen mitreißend erzählten Roman, bei dem T.C. Boyle einmal mehr seine Grenzen verschieben und etwas Neues ausprobieren wollte. "It is a straight forward, realistic historical narrative without irony and humor. Why? I just wanted so see if I can do that."
Yes, he can.
Insofern könnte man den Roman als das Gegenteil von "Wassermusik", dem wohl berühmtesten Werk von T.C. Boyle, verstehen, macht er sich dort doch über den historischen Roman lustig.
"Wassermusik" ist ein großartiges Buch.
"San Miguel" ebenso. Eines der seltenen Bücher, in das man völlig eintaucht, das man nicht aus der Hand geben will und das man gegen Ende hin fast langsamer liest, um den Schluss hinauszuzögern.