Erstellt am: 26. 8. 2013 - 17:00 Uhr
Wunder geschehen
Schon wieder Jonas, schon wieder Marie. Leser von Thomas Glavinic kennen diese beiden Namen schon aus seinen früheren Werken „Die Arbeit der Nacht“ und „Das Leben der Wünsche“. In Glavinics neuem Roman „Das größere Wunder“ tauchen die beiden in gewohnter Rollenverteilung wieder auf. Jonas als Hauptfigur, Zentrum der Handlung, und Marie als seine Geliebte und meist ferner Bezugspunkt.
Die beiden Romane bauen nicht aufeinander auf, die Leben der Figuren in den Geschichten sind grundverschiedene. So verhält es sich auch mit dem neuesten Werk des Autors, und doch bildet „Das größere Wunder“ den Abschluss der „Jonas-Trilogie“ (wie Glavinics Lektorin Lina Muzur es nennt). Denn das, was die drei Romane verbindet, sind die für Glavinic typisch elementaren Motive, die verhandelt werden: Angst, Einsamkeit, Liebe, und natürlich schwingt auch hier wieder eine gewisse Melancholie gegenüber der Welt und dem Leben zwischen den Zeilen mit.
Flashback auf 5400 Meter
Hanser
Zu Beginn des Romans findet sich Jonas, in der unwirklichen Gegend des Mount Everest Basis Camps wieder. Sein Ziel: der Gipfel. Von der Höhenkrankheit geplagt und durch den Verlust seiner großen Liebe Marie traumatisiert, setzt ein fiebertraumartiger Erinnerungsprozess ein, eine Rekapitulation seines Lebensweges, der ihn an diesen Ort geführt hat. Auf den folgenden gut fünfhundert Seiten wechseln sich die Coming of Age-Geschichte von Jonas, mit der detaillierten Beschreibung der Erklimmung des Gipfels seines erwachsenen Ichs Kapitel für Kapitel ab, bis die beiden Erzählstränge schließlich im Jetzt zusammenfinden. Ein Ausgangsszenario, das an Ernest Hemingways Kurzgeschichte "Schnee am Kilimandscharo" erinnert.
"It's only after we've lost everything that we're free to do anything"...
.. sagte schon Tyler Durden in "Fight Club". Glavinic erzählt die Geschichte eines eigentümlichen Freidenkers und Individuallisten, der schon früh alle Menschen verliert, die ihm etwas bedeuten: seinen Zwillingsbruder Mike, seinen besten Freund Werner, seinen Adoptivvater, ein gutmütiger Mafia-Pate namens Picco. Frei von persönlichen Bindungen und ausgestattet mit dem Vermögen des verstorbenen Picco, das seine ökonomische Unabhängigkeit garantiert, macht sich Jonas auf eine unbestimmte Suche.
„Er fuhr mit Zug und Bus von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, auf der Suche nach etwas, das er weder benennen noch fassen konnte, von dem er jedoch wusste, dass es existierte. Irgendwo hinter einer dünnen Membran wartete es auf ihn, auf seine Bereitschaft, es zu erkennen.“
Es sind existenzielle und banale Erfahrungen, exklusive und gewöhnliche Orte, nach denen er auf seiner beständigen Reise durch die Welt sucht. Jonas wird von einer Erfahrungssucht getrieben, die vom Trinken eines Liters Olivenöls bis hin zur Nahtoderfahrung reicht.
Der moderne Superheld
Schon früh erfährt man, dass Jonas überdurchschnittlich intelligent ist, nach langer Krankheit vermag er es, auf wundersame Weise, fremde Sprachen zu verstehen, in seiner Jugend wird er im Haus des Mafia-Paten von Philosophen, Nobelpreisträgern, Wissenschaftlern und Kung Fu-Meistern unterrichtet. Die Tatsache, dass der Protagonist zahlreiche lebensgefährliche Situationen, wenn auch nur knapp, überlebt, suggeriert Unsterblichkeit. In gewisser Weise ist "Das größere Wunder" somit auch ein Abgesang auf das Individuum, und Glavinic erschafft mit Jonas eine Art Superheld, einen freien Menschen, der die ganze Welt erfassen und dieses Erleben auch vor der Vergänglichkeit beschützen kann.
„Er drehte die Karte in den Händen. Betrachtete sie. Die Erinnerung an den Moment, in dem er sie in den Briefkasten geworfen hatte, kehrte zurück. […] Jonas tauchte ins Damals ein. Fühlte die Karte. Die Hitze. […] Nur einige Sekunden hielt dieser Zauber an, doch für ihn war diese Zeitspanne reicher als manch ein Tag.“
Poetologie der Erfahrung
Jonas reist also durch die Welt, sammelt Erfahrungen und konserviert sie. Seine Motive in "Das größere Wunder" können auch als Allegorie gesehen werden. Glavinic etabliert hier (s)eine Poetologie der Erfahrung, denn nichts anders macht das Schreiben bzw. ein Autor: innere und äußere Erfahrungen konservieren und immer wieder abruf- und erfahrbar zu machen. Jonas ist der intellektuelle Autor seiner eigenen Lebensgeschichte, die er immer wieder aufschlagen und lesen kann.
Flucht in die Todeszone
Irgendwann trifft Jonas auf Marie und all die Erfahrungssucht wird obsolet, weil sie, Marie, das einzige ist, wofür es sich zu leben lohnt: Sie ist das Ziel, die Major-Erfahrung der wahren, großen Liebe, die alle nur erdenklichen und machbaren Erfahrungen in sich vereint. Ein Liebesbekenntnis des Autors.
Das Auseinanderbrechen der Beziehung traumatisiert Jonas und lässt ihn in sein altes Schema zurückfallen. Er beschließt, den Mount Everest zu besteigen.
Glavinic nicht in Bestform
„Das größere Wunder“ ist für den Wilhelm-Raabe Preis nominiert und auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
In diesen Etappen können wir den Protagonisten beobachten wir er sich, hustend, kotzend, und um Atmen ringend den Gefahren des Aufstiegs stellt. Die Passagen sind plastisch und genau beschrieben und faszinieren. Spannend und anregend sind auch philosophische Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen eines Menschenlebens, der Qualität von Erfahrungen, die ein Individuum prägen und konstituieren, sowie die Rolle der Zeit, die uns die Unmittelbarkeit unserer Erfahrungen von Augenblick zu Augenblick in den verfälschenden Raum der menschlichen Erinnerung entwendet.
In der Beschreibung der Charaktere des Romans, driftet Glavinic leider immer wieder in stereotype Darstellungen ab. Picco, der klassische "Scorsese"-Pate, Jonas' Mutter das Klischee einer überforderten, trinkenden Mutter, die sich in oberflächliche Beziehungen mit gewalttätigen Liebhabern flüchtet. Auch die Dialoge wirken manchmal hölzern und vorhersehbar und erinnern in ihrer übertriebenen Lässigkeit stellenweise unangenehm an Hollywood-Blockbuster. Das nervt und ist schade, denn es schadet einer inspirierten und ungewöhnlich vielschichtigen Geschichte.