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Conny Lee

Prokrastinative Hinterstübchen des Alltags

17. 8. 2013 - 11:47

The Ocean at the End of the Lane

Neil Gaiman hat wieder ein Buch geschrieben, und zwar unabsichtlich. Tja, kann schon mal passieren. Also, ihm zumindest.

The Ocean at the End of the Lane - Cover

Harper Collins Publishers

"The Ocean at the End of the Lane" von Neil Gaiman, erschienen bei Harper Collins

Eigentlich, so erzählt Neil Gaiman, hat er nur seine Frau Amanda (Palmer natürlich) vermisst, die gerade unterwegs war, um ihr neues Album aufzunehmen. Deswegen wollte er ihr eine Kurzgeschichte schreiben. Doch aus der Kurzgeschichte wurde eine längere Geschichte, dann eine ganze Novelle und schließlich, als Gaiman fertig war und seine Manuskripte abgetippt hatte, schrieb er eine, wie er selbst erzählt, überraschte Email an seinen Verleger, in der er ihm mitteilte: "Ich habe, wie es scheint, einen Roman geschrieben."

So etwas kann nur einem so routinierten und erfahrenen Autor wie Neil Gaiman passieren, der schon über zwanzig Bücher verfasst hat, unter anderem die Romanvorlagen für die Filme Coraline oder Stardust, oder die berühmte Comicreihe The Sandman. Aber man merkt es seinem neuen Buch auch an, dass es nicht krampfhaft aus der Feder gesaugt wurde, sondern in einem Guss entstanden ist.

Märchenhaft

In der Rahmenhandlung von "The Ocean at the End of the Lane" verlässt ein Mann das Begräbnis seines Vaters und fährt stattdessen an den Ort seiner Kindheit. Dort erinnert er sich an Geschehnisse, die er längst vergessen hatte. Damals hatte ein Mann, der Untermieter bei seinen Eltern war, aufgrund von Spielschulden Selbstmord begangen. Daraufhin passierten überall in der Gegend unheimliche Dinge in Zusammenhang mit Geld. Der Erzähler, damals sieben Jahre alt, erwacht beispielsweise, weil ihm eine Münze im Hals steckt.

Nicht weit von seinem Elternhaus entfernt steht die Hempstock Farm, in der drei Generationen von Frauen leben: eine alte Frau, eine Mutter und ein junges Mädchen, alle drei Hempstocks. Dieses Dreiergespann von Frauen taucht immer wieder in unterschiedlicher Form in Neil Gaimans Geschichten auf (z.B. die drei Hexen in den Sandman-Comics). Und auch hier verfügen die drei Frauen über Wissen und Fähigkeiten, die kein normaler Mensch weiß oder kann. Sie können das Alter einer Münze erkennen, indem sie die Elektronen genau betrachten, sie können Geschehnisse ungeschehen machen und sie können einen Ozean in einen Eimer füllen. Und sie wissen, dass hinter den unheimlichen Begebenheiten in der Gegend ein Monster aus grauem und pinkem Leinen steckt, das den Leuten Geld schenken möchte, um ihnen ihre Wünsche zu erfüllen. Der junge Erzähler und die kleine Lettie Hempstock machen sich auf, um das Monster in seine Schranken zu weisen. Es geht allerdings etwas schief und kurz darauf erscheint die Kreatur bei dem Jungen daheim, in Gestalt eines Kindermädchens. Sie macht ihm das Leben zur Hölle und bringt seinen Vater beinahe dazu, seinen Sohn umzubringen. Schließlich braucht es allen Einsatz der drei Hempstock Frauen, um das Monster zu besiegen und die Welt wieder in Ordnung zu bringen.

Neil Gaiman liest seine Beschreibung des Geld-Schenk-Leinen-Monsters

"Für Erwachsene"

Monster und Hexen - das klingt fast nach einem Märchen für Kinder, und doch wird "The Ocean at the End of the Lane" als Roman für Erwachsene bezeichnet. Einerseits liegt das daran, dass die Orte, Wesen und Situationen, die Gaiman schildert, durchaus gruslig sind. Seien es die Hunger Birds - dunkle, schattenhafte Wesen, die fast nur aus Mäulern und spitzen Zähnen bestehen, oder die Szene, in der der Vater seinen Sohn beinahe in der Wanne ertränkt:

  • Warnung: Die Szene, in der der Junge in der Dunkelheit neben einem Baum sitzt, umzingelt von den Hunger Birds, die ihn auffressen wollen, sollte man lieber nicht nachts lesen und dann an Neumond durch eine Straße laufen, in der aufgrund eines Stromausfalls die Lichter alle ausgegangen sind. Keine gute Idee. Nicht machen. Kostet Nerven. Glaubt mir.

I flailed with my hands, trying to find something to hold on to, but there was nothing to grab, only the slippery sides of the bath I'd bathed in for the last two years. I opened my eyes, beneath the water, and I saw it dangling there, in front of my face: my chance for life, and I clutched it with both hands: my father's tie.

Der Verrat durch den Erwachsenen, bedrohliche Lebewesen in der Dunkelheit, vertraute Dinge, die plötzlich fremd werden - derartige Urängste, die wir noch aus unserer Kindheit kennen, berührt Gaiman mit dieser Geschichte. Vielleicht kommt auch daher die Bezeichnung "Roman für Erwachsene", weil er erst bei Erwachsenen die unheimliche Wirkung entfalten kann. Womöglich ist "The Ocean at the End of the Lane" für ein Kind einfach nur eine fantastische Geschichte von drei Hexen und einem Monster. Gar nicht gruslig. Oder zumindest nicht grusliger als die Welt sonst auch.

So schickt Gaiman seinem neuen Buch ein Zitat voraus:
I remember my own childhood vividly... I knew terrible things. But I knew I mustn't let adults know I knew. It would scare them. (Maurice Sendak, in conversation with Art Spiegelman, The New Yorker, 1993)

In allen Geschichten Neil Gaimans werden seine fundierten Kenntnisse über Sagen, Mythen und Legenden aus aller Welt spürbar. Er weiß intuitiv, wie man Helden schafft, in die man sich hineinfühlen kann, Welten, die beim Leser Bilder im Kopf hinterlassen und Gegner, die auch ambivalent sind. Er weiß, wie man Märchen erzählt, die gleichzeitig neu sind und uns doch so vertraut vorkommen, weil sie schon immer und weltweit dieselben sind. "The Ocean at the End of the Lane" ist ein Märchen für Erwachsene, aber eigentlich ist es für das Kind in uns, das es genießt, sich zu gruseln. Weil es weiß, dass die Realität viel grusliger ist als jedes Märchenmonster.