Erstellt am: 16. 8. 2013 - 15:11 Uhr
Schluss mit der Lüge um die 100-Meter-Sprinter!
Das ist das Journal '13, meine heuer (wegen Jungvater-Pflichten) im Gegensatz zu 2003, '05, '07, 2009 und 2011 nicht sehr regelmäßige oder gar tägliche Web-Äußerung in ungeraden Jahren.
Heute wieder mit einem Ausflug zur Leichtathletik-WM in Moskau, die mich seit Tagen in den Bann zieht. Ab heute sind die 200-Meter-Läufer im Einsatz und das ist der Zeitpunkt, wo es gilt, einen Teil der Sportgeschichte neu zu schreiben.
Ersparen wir uns den Blick zurück in die Zeiten vor der elektronischen Messung: handgestoppte Zeiten sind nicht nur absurd subjektiv, sie ließen sich auch (ähnlich wie Skisprung-Noten) erkaufen oder eintauschen, waren sportpolitische Handelswerte.
Die Geschichte der reellen Zeitmessung im Sprint-Bereich, wo es ja um nichts Geringeres als den Beleg für den schnellsten Menschen der Welt geht, beginnt also (wie so vieles) 1968.
Da die Installierung der neuen Technologie mit den olympischen Spielen in Mexico City und so einem Austragungsort in beträchtlicher Meereshöhe (was im Schnellkraft-Bereich bessere Leistungen garantiert) zusammenfiel, setzten die Leistungen, die dort zwischen dem 12. und 27. Oktober erbracht wurden, Standards.
Alles begann 1968, mit Hines, Smith und Carlos ...
Am 14.10. gewann Jim Hines (USA) die 100 Meter in elektronisch gestoppten 9,95 Sekunden und löste mit diesem offiziellen Weltrekord die schon unendlich vielen handgestoppten 9,9-Sprinter ab, die bis dato offiziell den Weltrekord hielten.
Handstoppungen liegen um etwa 0,13 - 0,15 Sekunden unter der Realzeit - man kann also davon ausgehen, dass vor Hines' Lauf kein Mensch die 10,00-Barriere wirklich durchbrochen hatte.
Am 18.10. lief Lee Evans (USA) einen 400-Meter-Weltrekord, der bis 1988 hielt, am selben Tag gelang Bob Beamon (USA) im Weitsprung mit 9,90 ein unfassbarer Weltrekord, der erst 1991 von Mike Powell um 5 Zentimeter übertroffen, seitdem aber wieder nie erreicht wurde.
Zwei Tage später, am 16.10. gewann Tommie Smith einen nicht nur sportlich legendären Lauf (es war die Siegerehrung, in der Smith und der drittplatzierte John Carlos den Black Panther-Gruß erbrachten und eine poltische Revolte lostraten) mit 19,83. Das entspricht einer 100-Meter-Zeit von 9,915. Und: nein, das ist kein Zufall. Smith wurde am 7. Mai 1966 auch schon mit 19,5 handgestoppt - und zwar über 200 ganz gerade Meter, ohne, wie im Stadion üblich, die Kurve zu laufen (ein Weltrekord, der bis 2010 hielt). Dieser Rekord entspricht in etwa elektronischen 19,64. Also 9,82 auf 100 Metern.
Die 200 Meter-Läufer sind also im Normalfall schneller als die 100-Meter-Läufer, egal ob mit oder ohne Kurve. Deshalb kam auch in den Jahren nach 1968 keiner der 100-Meter-Starsprinter an die 9,915 von Smith ran.
... geht weiter mit Mennea, Johnson und Johnson ...
Es war wieder ein 200-Meter-As, das den Rekord drückte, und es war wieder in Mexico City: der Italiener Pietro Mennea, der schnellste Mensch der 70er und spätere Olympiasieger, lief bei der Universiade, den Studenten-Weltmeisterschaften, 19,72. Das entspricht einem 100-Meter-Wert von 9,86. Mennea war ab 1999 für Prodis Democratici Abgeordneter im Europaparlament, er ist diesen März verstorben.
Diese Zeit war dann gut zehn Jahre unerreichbar, ehe ein stotterndes Muskelpaket namens Ben Johnson bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul wie besessen einen 100-Meter-Weltrekord von 9,79 in die Laufbahn trampelte.
Johnson war Kanadier und durchbrach die langjährige Hegemonie der USA, die auf ihre 100-Meter-Siege aus rein propagandistischen Gründen viel Wert legte. Also wurde Johnson, der es wohl übertrieben hatte - seine Muskelberge waren auch zu offensichtlich angezüchtet - des Doping überführt; wiewohl es ein offenes Geheimnis war, dass alle Spitzenleute dopten, dass der gesamte Endlauf unter Drogen stand. So ist das, mit ganz wenigen Ausnahmen, ja bis heute noch.
Damit war auch der Weltrekord futsch, den hielt dann wieder der supersaubere KHG dieser Szene, Carl Lewis (USA). Aber der lag natürlich deutlich über Menneas 9,86.
Im April 1996 wurde Obadele Thompson (Barbados) von einer 5,7 Meter/Sekunde-Windböe zu einer Zeit von 9,69 getrieben - der Rekord fand aber keine Anerkennung.
Diese Marke übertraf erst Leroy Burrell (USA) am 6. Juli 1994 in Lausanne mit 9,85. Ein Wert, der allerdings immer noch hinter Tommie Smiths 200-Meter-gradaus-Zeit von 1966 liegt.
Zwei Jahre später zerstampfte ein neuer Gigant alle bisherigen Zeiten zu Makulatur: Michael Johnson (USA), der Mann mit dem Stechschritt eines hampeligen Zinnsoldaten, lief zuerst am 23. Juni 1996 bei einem Test in Atlanta schon sehr tolle 19,66, ehe er dann im Olympia-Finale am 1. August mit einer Fabelzeit von 19,32 für blankes Erstaunen sorgte. Dieser Wert steht für 9,66 über 100 Meter - damit war Johnson (der in der Folge auch den Weltrekord über 400 Meter in seinen Besitz brachte) der deutlich schnellste Mensch der Welt.
Interessanterweise verlor Johnson ein Jahr später ein Duell mit dem damaligen 100-Meter-Weltrekordler Donovan Bailey (auch ein Kanadier, der 9,84 konnte) über 150 Meter und gab verletzt auf. Bailey gewann mit schwachen 14,99.
... und endet dann, wie alles, bei Usain Bolt.
Das nächste Kapitel in der schnellsten 100-Meter-Zeit der Welt schrieb dann bereits Usain Bolt, der aktuelle Dominator der LA-Szene, nicht nur der des Sprints.
Bei den olympischen Spielen in Peking schaffte er am 16. August 2008 bei seinem 100-Meter-Sieg die Zeit von 9,69 und lag damit noch hinter Johnson. Vier Tage später war es dann - wie soll es anders sein - die Siegerzeit im 200-Meter-Finale, die Bolt an die Spitze katapultierte: 19,30, das entspricht 9,65 über 100 Meter.
Ein Jahr später bei den Weltmeisterschaften in Berlin war es dann erstmals umgekehrt: die beste 100-Meter-Zeit war zum ersten Mal in der Geschichte schneller als die über 200. Beide Werte kamen natürlich wieder von Bolt: die 100 Meter gelangen ihm am 16. August 2009 in 9,58, die 200 dann vier Tage später in 19,19 (das entspricht 9,595 über die 100).
Man könnte also meinen, dass der forsche Titel meiner Geschichte aktuell gar nicht stimmt. Tut er aber doch.
Ein paar Wochen vor Berlin nämlich, am 16. Mai in Manchester, hatte sich Usain Bolt auf ein 150-Meter-Rennen eingelassen, das er in der Zeit von 14,35 beendete. Das entspricht einer 100-Meter-Marke von 9,56periodisch und das ist besser als alle seine Berlin-Werte. Die finalen 100 Meter lief Bolt (also mit fliegendem Start) in 8,30.
Alle drei Bolt-Rekorde stehen noch. Nur den für die 200 kurvenlosen Meter geradeaus besitzt der heuer des Dopings überführte Tyson Gay (USA), der am 16. Mai 2010 19,41 (entspricht 9,705) schaffte und Tommie Smith beerbte.
Heute und morgen in Moskau:
Das Semifinale über 200 Meter findet heute um 17:40 statt, das Finale dann morgen abend um 18:00. In den 7 Heats heute früh kam keiner unter 20,15 - die Favoriten (Bolt, Weir und Ashmeade für Jamaica, Spearmon, Young und Mitchell für die USA, vielleicht noch der junge Brite Gemili oder Martina) halten sich bedeckt.