Erstellt am: 8. 8. 2013 - 17:19 Uhr
Von Fleisch und Moral
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Unter diesem Pseudonym hat die Amerikanerin Alice B. Sheldon jahrelang fantastische Prosa verfasst: ihre Geschichten sind geprägt von einem Gefühl der Fremdheit und folgen einer feministischen Causa ohne zu Predigten zu werden.
Und Er ist doch recht taub geworden, zumal für die höheren, weicheren Stimmen von Frauen und Kindern. Seine Mutter kann solche Stimmen natürlich hören und ist oft entsprechend tief bewegt. Aber Sie verfügt, wie alle weiblichen Gottheiten, wenn die Stiergötter die Herrschaft an sich reißen, über so gut wie keine Macht mehr.
Mit diesen Worten schließt Alice Sheldon eine ihrer klarsten und zornigsten Erzählungen. "Von Fleisch und Moral" heißt sie und beschreibt damit auch gleich die Grundpfeiler ihres Gesamtwerks. In der Kurzgeschichte rationiert und organisiert der Mensch Adoptionen von Babys ebenso wie Transporte von rar gewordenem Tierfleisch. Alles ist einer strengen ökonomischen Logik unterworfen: es muss wohl auch der entfesselte Neoliberalismus der Reagan-Ära gewesen sein, der Alice B. Sheldon Mitte der Achtziger zu diesem Text inspiriert hat. Der Menschheit gegenüber hegte diese Autorin aber ohnehin immer profundes Misstrauen.
Alice im Dschungelland
1915 wird sie in eine Chicagoer Upper Class-Familie hinein geboren. Ihre Mutter Mary ist damals schon gefeierte Autorin von Unterhaltungsromanen, ihr Vater Herbert ein erfolgreicher Anwalt. Das Ehepaar Bradley (Sheldon ist der Nachname von Alice' zweitem Ehemann) ist stadtbekannt und in die feine Gesellschaft Chicagoes eingelassen.
Gemeinsam mit ihrer Tochter und befreundeten Forschern und Naturalisten unternehmen die Bradleys in den zwanziger Jahren mehrere Expeditionen in Ost-Afrika. Die neunjährige Alice ist Blickfang für die Afrikaner, die sie auf ihrem monatelangen Trek treffen. Ihre Mutter schrieb,
Unterwegs drängten sie sich stets in Scharen um sie, und im Lager warteten sie stundenlang vor ihrem Zelt, um zusehen zu können, wie sie ihre Locken gebürstet bekam. [..] Sie waren überzeugt, dass [ihr Haar] eine Art Schmuck sein müsse, den sie irgendwie angebracht hatte, und häufig berührten sie es verstohlen und zogen ein bißchen daran, um sicher zu gehen, dass es auch tatsächlich auf dem Kopf wuchs!
Mary war überzeugt, dass für ihren vergötterten Liebling - nach mehreren Fehlgeburten und dem Tod von Alice' jügerer Schwester wurde Alice zum Zentrum ihrer Welt - diese Afrika-Reisen "ein immerwährendes Picknick" seien. Die erinnert sich Jahrzehnte später allerdings:
Ich denke, man könnte sagen, dass es eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist, mich von der Rolle eines Außenseiters zu erholen - ohne einen Platz zu haben, zu dem ich zurück kehren könnte, außer, der kleine blonde Liebling meiner Eltern zu sein, der den Kopf voller Tod hat.
Septime Verlag
Die Schutzlosigkeit eines Kindes im afrikanischen Busch, das dauernde Sein unter Erwachsenen, das Erfüllen der Rolle des gelockten Engels, die Omnipräsenz des Todes: all das sind prägende Erfahrungen für Alice. Zeitlebens wird sie versuchen, sich selbst zu finden - und scheitern. Immerwährend wird sie, die unabhängige, starke Frau, von anderen definiert: vor allem von ihrer liebevollen Mutter, deren eigenes Genie das von Alice immer überstrahlt, deren Lebensplan für ihre Tochter deren Selbstständigkeit letztendlich verunmöglicht.
Die toten Vögel
In der Pubertät kommen dann noch andere Gefühle hinzu, die diese junge Frau weiter abrücken lassen, von dem was sie als Normalität kennt. "Tiptree's Dead Birds" nennt Sheldon ihre unvollständigen Erinnerungen, in denen sie schreibt:
Es war mir zu dieser Zeit bereits gelungen, meine Jungfräulichkeit loszuwerden, mit Unterstützung des üblichen wohlwollenden älteren Herzens, das den Jüngeren häufig behilflich ist; aber da ging es um Vögeln. Hier ging es um Liebe. [...] Ich konnte nicht schlafen. Ich machte mir keine Illusionen über Cheries Unschuld; das Monumentalwerk, an dem sie schrieb, handelte angeblich vom weiblichen Orgasmus.
Hingekritzelt in einem Skizzenbuch steht:
Mein Gott als Künstlerin kann ich mich nach Frauen sehnen schönen Frauen Frauen Frauen mit weichen Hintern (für dich: Ärsche) und Brüsten gottverdammt ich will mich in eine verrückte weiche Frau rammen und kommen, kommen, mich vergießen, kommen, sie schwängern Jesus lass mich ein Mann sein kommen in kommendes Fleisch ich liebe Frauen ich werde nie glücklich sein. [...]
Septime Verlag
Alice sehnte sich danach, ein Mann zu sein. Für sie wäre es die Lösung all ihrer Probleme. Sie würde Ernst genommen als Autorin, könnte mit Frauen schlafen, ohne von der Gesellschaft dafür verurteilt zu werden. Ihr erster Mann, den sie in einer Spontan-Aktion mitten in der Nacht im Vollrausch ehelicht, beklagt sich später, Alice sei viel zu männlich gewesen, viel zu hart.
Die männliche Perspektive, ein männliches Leben löst sie schließlich als James Tiptree Jr., zumindest teilweise ein. Niemand ahnt, dass sich hinter diesem Nom de Plume eine Frau aus der oberen Gesellschaftsschicht versteckt. Erst 1977 wird dieses Geheimnis, "ein Geheimnis, das verdammt nochmal keinem anderen gehört als mir", gelüftet - sehr zum Erstaunen von Tiptree's Fans.
Septime Verlag
In ihrer außergewöhnlich gut recherchierten, sprachlich klaren und dennoch raffinierten Tiptree-Biografie Das Doppelleben der Alice B. Sheldon spannt die US-Literaturkritikern Julie Phillips einen weiten Bogen und nimmt sich viel, nämlich 800 Seiten lang, Zeit, das Leben dieser außergewöhnlichen Frau nachzuerzählen.
Man begleitet Alice in den Dschungel und auf Dates. Man ist dabei, als sie sich als eine der ersten Amerikanerinnen überhaupt während des Zweiten Weltkriegs als Freiwillige für die US-Armee rekrutieren lässt; und auch, als sie sich mit ihrem zweiten Mann Huntington "Ting" Sheldon für die CIA verpflichten lässt.
Mit zarten irren Händen
Selbstverständlich wird auch ihre literarische Karriere erzählt. In den bisher erschienenen drei von insgesamt geplanten sieben (!) Bänden mit sämtlichen Erzählungen der Autorin, wie die Biografie im feinen Septime Verlag, kann man sich selbst von der Erzählwucht von James Tiptree Jr. überzeugen. Die meisten ihrer Kurzgeschichten sind intelligente, fast esoterische Lamenti über verlorengegangene Empathiefähigkeit: beklagt wird eine Welt ohne Gefühle, in der technokratische Logik-Systeme die Menschlichkeit ersetzt haben.
Septime Verlag
In einer ihrer berühmtesten Erzählungen, "The Screwfly Solution", imaginierte sie eine nahe Zukunft, in der eine neue Kirche Misogynie predigt und zum Massenmord an Frauen aufruft.
Wenn der Mensch sich von seinem tierischen Anteil befreit, also von der Frau, dann ist das genau das Zeichen, auf das Gott wartet. Dann wird Gott den neuen, sauberen Weg offenbaren, vielleicht bringen dann Engel die neuen Seelen, oder vielleicht leben wir dann ewig, aber es ist nicht an uns zu spekulieren, sondern wir müssen nur gehorchen.
Der Feminismus im Werk von Alice Sheldon ist kein programmatischer und auch kein politischer: die Autorin gibt damit Einblick in ihre eigene Erfahrungswelt. Zeitlebens Außenseiterin zu sein, weil man das Gefühl hat, nicht in seinen Körper zu passen, nicht in sein Leben zu passen, hinterlässt Spuren. In der Seele und in der Kunst. Mit der Science-Fiction verarbeitet sie auch ihre Kindheit: Damals begegnet sie dem Tod zum ersten Mal, damals entwickelt sie eine Faszination für die unberührte Wildnis des Kontinents. Als das Kolonial-Regime das alles zerstört, stirbt für die kleine Alice damit auch ihr unschuldiger Blick auf die Welt.
Meine eigene Kindheit war ein außergewöhnliches, abgeschirmtes kleines Idyll des 19. Jahrhunderts, in dem ich mit einer wundervollen Gruppe Erwachsener von hoher Moral völlig en rapport war, die dachten, die große grüne Welt - wie sie damals war - sei ihre Wundertüte. [..] Und dann wurde die ganze verdammte Sache zerschlagen - alle Leute, die wir kannten, tot, meine Familie sterbenskrank, der ganze Traum vom Anbruch einer neuen Welt als Mumpitz enthüllt. Und mir blieb niemand, der jemals miterlebt hatte, was einst so wirklich gewesen war. Ich war der letzte Hüter des Traums von Freundlichkeit und Liebe und Zauber - wie ein Überlebender aus Atlantis.
Der Tod ist das Leben
Kaum eine Geschichte von Alice B. Sheldon endet gut: auf der letzten Seite regiert immer der Tod. Entweder der eigene. Oder auch der der gesamten Menschheit.
Ich will es noch einmal wiederholen - er war da. Barney, falls du das je liest, hier sind Wesen. Und ich glaube, sie haben das mit uns gemacht. Haben dafür gesorgt, dass wir uns selbst auslöschen. Warum? Naja, es ist eine schöne Gegend, wenn bloß die Leute nicht wären. Wie wird man die Leute los? Bomben, Todesstrahlen - alles ganz schön primitiv. Hinterlässt ein Riesenchaos, Krater, Radioaktivität, da bleibt von der Gegend nichts übrig. So jedoch gibt es kein Wenn und Aber. Das schwache Glied herausfinden und dann ein bisschen warten; den Rest haben wir für sie erledigt. Übrig bleiben nur ein paar Knochen, die geben guten Dünger.
Das Werk von Alice B. Sheldon verdient, nein, eigentlich verlangt eine Neubewertung. Mit ihren wilden, intelligenten, provokanten, sinnlichen und verzweifelten Science-Fiction-Fantasien gehört sie auf eine Stufe gestellt mit den ganz großen Fantasten des 20. Jahrhunderts.
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Gestorben ist Alice B. Sheldon im Mai 1987 im Alter von 71 Jahren. Zuerst hat sie ihren Mann erschossen, danach sich selbst. Es war ein Pakt, den die beiden geschlossen haben, sich das Leben zu nehmen, wenn nichts Lebenswertes mehr übrig ist, wenn sie sich zu alt fühlen. Insofern: zumindest ihren Tod konnte sie selbst bestimmen.