Erstellt am: 31. 7. 2013 - 14:02 Uhr
Leben und Sterben in L.A.
Letzte Woche war wieder einer dieser Augenblicke. Ich durchtauchte die vorherrschende Hitzewelle im kühlen Seewasser, blinzelte in die Sonne, atmete frische Luft, spürte ein ganz banales und doch seltenes Gefühl von wirklicher Ruhe und Gelassenheit.
Ein Telefonat später schwankte die heile Urlaubsidylle ganz gewaltig. Mein Onkel, ein ungemein sanftmütiger, zurückhaltender, freundlicher Mann, war in den Morgenstunden verstorben.
Mir sind solche Anrufe, die aus heiterem Himmel kommen und Seifenblasen des Müßiggangs drastisch platzen lassen, leider sehr vertraut. Der Tod meiner Mutter und zehn Jahre später meines Vaters erfolgte ebenfalls aus dem Nichts, beide Male im Frühsommer, draußen vor dem Krankenhaus erblühte die Natur, die Tonkulisse in den Intensivstationen vermischt sich in meinen Erinnerungen mit Vogelgezwitscher.
Es ist mir sehr unangenehm, hier so persönlich zu werden und dann einfach zu einem oberflächlichen Thema wie einer Fernsehserie überzuleiten. Aber „Six Feet Under“ ist eben alles andere als eine platte Seifenoperette und die immense Wucht, mit der mich dieses TV-Wunder seinerzeit überrollte, ist in meinem Fall untrennbar mit privaten Momenten verbunden. Mit intimen Erlebnissen, mit Ekstasen und Enttäuschungen und natürlich der Erfahrung des Verlusts, die mir damals durch den Unfalltod meiner Mutter schon schwindelerregend vertraut war.
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Das Geschäft mit dem Tod
Was „Six Feet Under“, neben vielen anderen Dingen, mehr auf den Punkt brachte als die meisten Kinofilme, ist eben dieser fiese Lauf der Dinge. Dass die schlimmsten Tragödien immer dann passieren, wenn man gerade mal kurz einen Friedenspakt mit der Welt geschlossen hat. Dass Glück und Grauen oft haarscharf nebeneinander liegen. Dass unsere Existenz eine Achterbahnfahrt ist.
Letzteres hört sich schrecklich klischeehaft an, aber wer schon mal ansatzweise in Abgründe gedonnert ist, dann wieder in den Himmel hinauf gerast und wieder retour, nickt vielleicht mit einem abgeklärten Blick.
Die Achterbahnfahrt der Bestatterfamilie Fisher aus Los Angeles, zwischen Katastrophen und Komik, dauert von 2001 bis 2005. Fünf Staffeln und 63 Folgen lang flimmert „Six Feet Under“, als neben den „Sopranos“ wichtigste Prestigeserie des Pay-TV-Giganten HBO, über die amerikanischen Bildschirme. Am Anfang jeder Episode steht ein plötzlicher Todesfall, der manchmal plakativ, dann wieder extrem lakonisch inszeniert ist, zeitweise schockierend und dann wieder beiläufig.
In der Pilotfolge trifft es Nathaniel Fisher (Richard Jenkins), dessen ungleichen Söhne Nate Jr. und David das Bestattungsunternehmen weiterführen müssen. Peter Krause gibt den notorischen Slacker und Frauenheld, „Dexter“ Michael J. Hall besticht als sensibler Schwuler, der sein Coming Out erst spät in der Serie hat. Der weibliche Teil der normal-dysfunktionalen Familie besteht aus der liebenswürdig verhuschten Mutter Ruth (die herrliche Frances Conroy) und der heftig pubertierenden Schwester Claire (Lauren Ambrose). Rund um diese Schlüsselfiguren kreist vielfältigstes Personal: Liebhaberinnen und Liebhaber, Verwandte, Freunde, Angestellte.
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Eine Serie namens "Realität"
Eine Familie aus Beziehungsgeschädigten und Traumatisierten, ein Druckkessel aus geheimen Affären und unterdrückter Homosexualität, dazu Daddy, der aus dem Grab bissige Botschaften verbreitet und der nicht unmorbide Einbalsamierer-Job: „Six Feet Under“ hätte sich, in den falschen Händen, durchaus in schwarzhumoriger Skurrilität erschöpfen können. Oder auch in billigen Schnulzenszenarien münden.
Dank dem blitzgescheiten Schöpfer Alan Ball, der zuvor die bittere Suburbia-Satire „American Beauty“ und danach die Vampirsaga „True Blood“ verfasste, gibt es aber kaum Szenen, wo die konventionelle Bildschirm-Dramaturgie zuschlägt. Es wird nicht gelogen, um Quoten zu steigern oder eine bestimme Botschaft zu verankern. Und irgendwann verschwindet auch der politisch korrekte Zuckerguss, der in der ersten Staffel noch manche Episoden überzieht. Stattdessen wirkt „Six Feet Under“ in den besten Folgen so sehr aus meinem/deinem/unserem Alltag gegriffen, dass auch das aufgeschlossene Indiekino noch davon lernen kann.
Genau darin liegt auch die zentrale Qualität der Fisher-Saga, die sich von all den anderen großartigen Serien abhebt, denen nicht nur meine Wenigkeit verfallen ist. „Six Feet Under“ braucht keine bedrohlichen Mafiosi-Figuren, keine schwerterschwingenden Fantasykrieger oder durchgeknallten Drogendealer.
Hier wird die Realität zelebriert: Der Sex am Fußboden, die heftigen Streitereien, das Kiffen und Masturbieren in der Badewanne, die erwähnten emotionalen Ups und Downs, natürlich immer wieder die Konfrontation mit der Vergänglichkeit. Und das alles ohne den üblichen voyeuristischen oder simplifizierten TV-Einschlag. Sondern einfach weil es zum Leben gehört.
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Fernsehen mit Herzschmerzen
Wenn sich Uneingeweihte jetzt vor trister Sozialpornografie fürchten, dann völlig umsonst. Das Genie von Mastermind Alan Ball, das begnadete Team von Autoren und Regisseuren, das unpackbar gute Schauspielerensemble, unterstützt durch famose Gaststars wie Ben Foster, James Cromwell oder Lili Taylor, sie alle sorgen für einen dramatischen Sog, der wohl nur mit den klügsten und spannendsten Romanmeisterwerken vergleichbar ist.
Am Ende habe ich dann geheult. Keine zaghaften Tränen wie bei manchen besseren RomComs aus der Apatow-Schmiede. Nicht aus schlichter Überwältigung wie bei besonders pathetischen Comicverfilmungen. Ich weinte in Sturzbächen drauf los, zitternd auf der Couch. Die letzten drei Folgen der finalen „Six Feet Under“ Staffel bleiben ein einschneidendes Katharsis-Erlebnis, wie es höchstens noch Lars von Trier oder Terrence Malick mit bestimmten Werken gelungen ist.
Was sicherlich mit der Länge der Serie zu tun hat und der Nähe, die man dadurch zu bestimmten Charakteren entwickelt. Bei „Six Feet Under“ kommt allerdings noch der beschriebene Wirklichkeitseffekt dazu, dieses Fehlen von reißerischen Crimeszenarien oder Thrillerelementen, die sich in anderen Fällen eskapistisch dazwischenschieben. Nie ist mir Fernsehen mehr unter die Haut gegangen, ganz persönlich nahegestanden, wie ein Besuch bei Freunden vorgekommen. Natürlich Freunde mit kleinen Defekten.
Ich habe sie echt geliebt: Claire und ihren Hang zu Kaputtnicks, die hin- und hergerissenen Paare Nate/Brenda und David/Keith, die labile Mutter Fisher, den zerrissenen Hector, den alten George. Und ihre Reise, die oft trist und aussichtslos wirkte, bis sich auf einmal Anzeichen einer positiven Veränderung abzeichneten. Und danach zuckelte der Wagen die Achterbahn wieder hinab. Anrufe kommen aus heiterem Himmel. Vogelgezwitscher mischt sich mit Geräuschen in der Intensivstation. Begräbnisglocken läuten. Keine Angst, hier wird nichts gespoilt – außer meine ganz privaten Tränen.
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