Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Schauprozess-Comic"

Roland Gratzer

Links und Likes

30. 7. 2013 - 15:15

Schauprozess-Comic

Im Erzähl- und Bildband "Verbotene Kunst" verfolgen Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew einen Prozess gegen zwei Verantwortliche einer kritischen Ausstellung in Russland.

"Verbotene Kunst"

Matthes & Seitz Berlin

Verbotene Kunst von Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew ist im Verlag "Matthes & Seitz Berlin" erschienen. Aus dem Russischen mit einem Nachwort von Sandra Frimmel.

Einer der Angeklagten kotzt in den Gerichtssaal. "Das ist eine Performance! Das ist eine Provokation!", schreien die anwesenden VertreterInnen der orthodoxen Kirche. Die JournalistInnen müssen im überfüllten Gerichtssaal im Käfig für die Angeklagten sitzen. Die Richterin fragt, warum Kunst überhaupt notwendig ist. Ein Priester, den alle nur "Vater Pawel" nennen, beschwert sich bei seinen AnhängerInnen: "Leider dürfen wir keine Pogrome organisieren."

Der in "Verbotene Kunst" erzählerisch und zeichnerisch dargestellte Gerichtsprozess wirkt auf den ersten Blick wie eine absurd-tragische Kollaboration von Franz Kafka und Daniil Charms. Ein Verwaltungsapparat, dem die Worte "Gerechtigkeit" und "Fairness" unbekannt sind, trifft auf so dermaßen verrückte Charaktere, dass das alles eigentlich nicht wahr sein kann. Ist es aber.

Comic

Wiktoria Lomasko, Verlag Matthes & Seitz Berlin

"Sie zeichnet uns. Dafür sollte man ihr eins überziehen." - "Haben Sie überhaubt den Segen zum Zeichnen erhalten?"

Im Jahr 2006 stehen der Kurator Andrej Jerofejew und Museumsdirektor Juri Samodurow vor Gericht. Was sie angestellt haben? Eine Ausstellung mit Kunstwerken, die zumeist in vorauseilender Selbstzensur aus anderen Museen und Galerien entfernt worden waren. Micky Maus, die eine Bergpredigt liest, zum Beispiel. Oder eine Ikone (die zum Heiligtum erhobenen Bilder der orthodoxen Kirche), auf der ein fetter Batzen Kaviar liegt.

Comic

Wiktoria Lomasko, Verlag Matthes & Seitz Berlin

"Uns bleiben nur noch Pogrome" - "Ich habe keine Angst vor ihnen"

Weitere Literaturempfehlungen

Die AnklägerInnen gehören zur sogenannten "Volkskirche", einer klerikalen Vereinigung mit besten Kontakten zum Putin-System. Über hundert ZeugInnen, meistens alte Frauen, dürfen vor Gericht von den Schmerzen erzählen, die die Kunstwerke in ihnen hervorgebracht haben. Der Anfangsdialog ist immer der selbe:

Richterin: "Wo haben sie von der Ausstellung erfahren?"

ZeugInnen: "Im Radio".

Richterin: "Wo haben sie die Kunstwerke gesehen?"

ZeugInnen: "Im Internet"

Pastor

Wiktoria Lomasko, Verlag Matthes & Seitz Berlin

Vater Pawel: "Schlag ihm auf den Mund, bis ihm alle Zähne ausfallen und segne die Rechte!"

Das gemeinsame Wording rührt daher, dass der bereits erwähnte Vater Pawel und seine Kollegen die Zeugenschaft mit einem Spickzettel versorgt hat. Darauf stand eben: Radio und Internet. Auf die Frage der Verteidigung, was denn dieses Internet sei, kam kaum eine sinnvolle Antwort. Das war der Richterin aber egal.

"Verbotene Kunst" ist ein Werk zwischen Gerichtsreportage, fratzenhaftem Comicstrip und facepalm-WTF?-Realität. In kurzer Zeit von hinten bis vorne gelesen zeigt es ein Russland, in dem Kunst tatsächlich noch für Aufruhr sorgt und sich gegen eine unheilige Allianz aus Kirche und Politik zur Wehr setzt, die Religionskritik mit Kritik an System und dem Leben an sich gleichsetzt. Und hinter allen Vorgängen natürlich eine jüdische Weltverschwörung ortet. Denn in einem Land, in dem offizielle Kirchenvertreter bedauern, dass auf "Entweihung von Heiligtümern" nicht mehr die Todesstrafe steht und dafür Zuspruch von Politik und Justiz bekommen, da läuft ganz viel ganz schön falsch.

Comic

Wiktoria Lomasko, Verlag Matthes & Seitz Berlin