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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

31. 7. 2013 - 10:40

All That Sex

Mit nackerten Musikvideos ins Schwitzen geraten. Das geht durchaus subtiler und sinnlicher als bei Robin Thickes "Blurred Lines".

Reden wir von Temperaturen. Die sind bekanntlich gerade etwas gaga. Besonders in good old Austria, wo ich die letzten zweieinhalb Wochen die übliche Tour de Heimat absolvieren durfte. Und ich muss schon sagen: Gegen Eure Intensivhitze kann sich derzeit sogar der berüchtigte Glutofen NYC brausen gehen. Summer of Mundl is the new Summer of Sam!

Hüben wie drüben wird aber nicht bloß wegen der hart arbeitenden Sonne geschwitzt. Auch das Video zu Robin Thickes Konsens(sommer)hit „Blurred Lines“ sorgt derzeit für erhitzte Gemüter und Bluthochdruck in verschiedenen Körperregionen (und macht nebenbei diese schale Michael-Jackson-B-Seiten-Nummer von Daft Punk ziemlich schnell vergessen).

Thickes Video flimmert nun ungezogen, weil zur Hälfte nackt über die Screens. Wie sich das für einen ordentlichen Lumpi im Yuppie-Angzug gehört, sind es selbstverständlich Models, die textilfrei die Gaudi der Heteronormos behübschen, während der Mann mit der grellsten Post-Production-Augenfarbe ever „I Know You Want It“ trällert, was – wenn man sich nicht absichtlich blöd stellt – in Zusammenhang mit dem Songtitel sehr ungute Konnotationen hervorruft.

Natürlich stellt sich Thicke, der bisher hauptsächlich als Industrieschreiber und Pop-Performer der zweiten Reihe in Erscheinung getreten ist absichtlich blöd. Zunächst machte er die Unschuldsvermutung für sich geltend. All das Nackerte wäre bloß einer spontanen Eingebung des Regisseurs am Set geschuldet, so Thicke. Er selbst wollte nahtlos an die Komik von Benny Hill aus den 70er Jahren anschließen, was eigentlich eh schon ziemlich viel erklärt.

Das "Gender Reversal" zum Thicke-Video von der Boylesque Truppe Mod Carousel aus Seattle

Als sich das laue Lüftchen der Kritik dann zu einem kleinen Sturm der Entrüstung aufbauschte, wollte der Mann mit dem Dackelblick plötzlich in emanzipatorischer Absicht gehandelt haben. Es ginge – so Fricke – um die Überhöhung und Ausreizung von Klischees, die von der Warte eines biederen Familienvaters aus formuliert, jegliche, im Song vermutete Fantasie, annuliere. Und schließlich hätte er das gute Stück ohnehin mit einem Augenzwinkern serviert! Immerhin, so scheint es, hat Fricke genasert, dass sich unter dem Deckmantel der Ironie so ziemlich alles als eine Art Kritik verkaufen lässt, auch nackte Tatsachen.

Der Verwertungslogik des zeitgenössischen Popbuiz gehorchend folgten auf die kritischischen Stimmen die Netzparodien, die Clips von Aktivisten und Fans, die mit Eigenbauvideos für den so heiß ersehnten viralen Multiplikationseffekt sorgten („Blurred Lines“ wurde mittlerweile u.a. von Vampire Weekend und QOTSA und natürlich Zigtausenden Homies gecovert). Die Rechnung ging wieder einmal auf: Song und Video sind bereits im März erschienen. Mittlerweile versenkt die wohl gar nicht so blauäugig kalkulierte Hit-Provokation einen Industrierekord nach dem anderen.

Hier also einige weitere Unangezogenheiten im Clipformat, die allerdings zeigen, dass man nicht erst zur Schutzbehauptung greifen muss, wenn man bei Textilien spart:

The BPA - Toe Jam

Mein Fav: das im guten Sinn des Wortes ironische Video zu „Toe Jam“ von Regisseur Keith Schofield für die beiden Popveteranen David Byrne und Fatboy Slim, die hier mit Dizzee Rascal als The BPA gemeinsame Sache machen und eine fidele Truppe den Zensurbalken-Boogie tanzen lassen.

Goldfrapp - Drew

Auch hier muss (zumindest in den Staaten) bei YouTube mit einem Log-In die Reife bestätigt werden. Goldfrapp machen in ihrem Video zum neuen Song "Drew" den Mann zum Objekt der Begierde. Trotz Naturanzug darf dieser aber sinnlich sein und seine Würde behalten. Schön, er ist ein Geist und es gibt auch eine Geistin!

Femme En Fourrure - Pretty Boy

Das verstörendste Musikvideo seit langer Zeit mit dem perfekten Titel als passende Antwort zur allgemeinen Bounce-Exploitation, wie sie gerade von Mad Decent und Co. betrieben wird. Der finnische Regisseur Miikka Lommi liefert für seine Landsleute von Femmer En Fourrure Wackelbilder zu den enervierenden und zutiefst bedrohlichen Sounds des Elektronikduos. Ohnmachtseroktik pur.

Perfume Genius - Hood

Schließlich ein Video, das – ebenso wie die nackige Version von „Blurred Lines“ – beinahe der YouTube-Zensur zum Opfer gefallen wäre. Die harmlose Homoerotik von Perfume Genius, der vom (mittlerweile verstorbenen) Porno-Star Arpard Miklos innig gehalten und später geküsst wird, fand erst unter Protesten von LGBT-Verbänden und Pop-Promis wie Michael Stipe wieder zurück in den Videokanal. YouTube hielt den Clip zunächst für "nicht familienfreundlich". Bei einem Hetenpaar wäre es nie zu so einer Punze gekommen, so der Einwand der Community. Daraufhin gab die Plattform den Clip für Personen über 18 Jahre frei.

Nachtrag: Robert Palmer - Addicted To Love

Ich habe in der Hitze des Gefechts völlig auf das offentsichtliche Patenvideo zu "Blurred Lines" vergessen: der vom britischen Fotografen Terence Donovan für Robert Palmer inszenierte Clip zu "Addicted To Love". Das "Iconic Model"-Konzept von uniform tanzenden Foto-Models erregte in den mittleren Achzigern gleichermaßen FeministInnen wie *räusper* MTV-glotzende Teenager und wirkt aus heutiger Sicht richtig brav. Das Musikvideo war so populär, dass Palmer den Model-Schmäh durch drei weitere Videos schleppte, allerdings mit mäßigem Erfolg. "Addicted To Love" ist eines der meistzitierten Musikvideos der vordigitalen Ära. Für Parodien war damals übrigens fast ausschließlich ein einziger Mann zuständig: Weired Al Yankovic!