Erstellt am: 7. 8. 2013 - 16:00 Uhr
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Machen Albert Camus, F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway oder Miroslav Krleža einen Menschen zum Selbstmörder? Diese Frage stellt sich Anton, der Protagonist und Erzähler in Norbert Gstreins Roman Eine Ahnung vom Anfang, nachdem sich sein Bruder Robert an einem idyllischen Fluss im Tiroler Oberland erschießt. Denn Robert hinterlässt keinen Abschiedsbrief, nur seine Bibliothek, in der Anton fortan nach Hinweisen auf den Suizid sucht, ohne eine befriedigende Antwort zu erhalten.
Mehr als ein Jahrzehnt später glaubt er sich wieder in diesen Büchern vertiefen zu müssen, nicht mehr wegen seines Bruders, sondern wegen seines ehemaligen Schülers Daniel. Ihm hat er die Bücher seines Bruders zu lesen gegeben, in einem Anfall an Sentimentalität, wie Anton betont. Jetzt meint er, Daniel auf einem pixeligen Fahndungsfoto der Polizei erkannt zu haben, im Zusammenhang mit einer Bombendrohung.
Zurück zum Anfang
Als sich Anton und Daniel kennenlernten war letzterer noch ein Musterschüler am Provinzgymnasium. Einer, um dessen Zukunft und Zuneigung sich die Lehrer stritten. Nach der Matura ist er immer weiter in christlichen Fundamentalismus abgeglitten und Anton hält sich daran zumindest für mitschuldig.

Hanser Verlag
Um die Entwicklung Daniels nachvollziehen zu können, geht Anton zurück bis in den Sommer nach Daniels Matura. Damals hatte er sich eine alte Mühle am Fluss gekauft, ein Stück stromaufwärts von dem Ort, an dem sich sein Bruder getötet hat, und begonnen sie zu herzurichten. Anfangs als störend, später als Genuss empfunden, schließen sich ihm Daniel und dessen Freund Christoph an und die drei verbringen einen Sommer voller Sonnenbäder, Lektüre und Diskussionen. Ein Sommer, über dem auch das Tabu der romantischen Lehrer-Schüler-Beziehung steht, das in Gerüchteform die Runde in der Kleinstadt macht.
Von der Sinnsuche zur Errettung
Anton erkennt in diesem Sommer, dass Daniel auf Sinnsuche ist und will ihm mit seinen Lektüreempfehlungen dabei helfen. Doch bei Daniel funktioniert der Übergang vom unbeschwerten Jugendlichen zum verantwortungsvollen Erwachsenen nicht, der Übergang vom Sommer zum Herbst. Was Anton übersieht ist, dass der vaterlose Daniel dermaßen verloren ist, dass er gerettet werden will, und da er selber nicht zupackt, lässt sich Daniel von einem amerikanischen Reverend retten, mit einer absurden Zeremonie unten am Fluss.
In den Jahren, die danach kommen, entfernt sich Daniel immer weiter von der Gesellschaft, was Anton aber nicht so richtig wahrhaben will. Er bemerkt weder sein gestörtes Verhältnis zu Frauen, noch seinen Missionierungsdrang und verpasst alle Gelegenheiten, in seine Entwicklung einzugreifen, falls er dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre. Nur im Rückblick kann er dessen Abgleiten in den Fundamentalismus nachzeichnen, wobei seine Erinnerungen allerdings immer trügerischer werden.
Ambition trifft LeserIn
Dass Norbert Gstrein selbst fest davon überzeugt ist, dass Literatur einen Menschen forme und wie er sonst noch seinen Roman interpretiert haben will, erzählt er hier in einem interessanten Interview.
Norbert Gstrein greift in seinem Roman auf die Geschichte vom verlorenen Sohn zurück und verknüpft sie mit der aktuelleren des abwesenden Vaters. Er kreist in Gedanken um die Möglichkeit einen Menschen zu formen und die Weichen in seinem Leben zu stellen, will aber auch keine letzte Antwort darauf geben, warum ein Mensch zu dem wird, der er ist.
Fast überrascht lässt er seinen Erzähler allerdings auf die Erkenntnis reagieren, dass die Welt nicht so säkular ist, wie er der Meinung war, dass von den Rändern der Gesellschaft her der religiöse Überhang hinein bricht, wenn sich Unsicherheit breit macht.
Dazwischen huldigt er dem unschuldigen Sommer, und spart nicht an Kritik am kleinstädtischen Leben, an der Borniertheit am Land, am Stammtischgerede, den "Pöschten", der so genannten besseren Gesellschaft, die es sich richtet. Damit deckt er ein riesiges Spektrum ab, wobei die Frage bleibt, ob es nicht alles zu viel ist.
Norbert Gstrein liest am 8. August aus "Eine Ahnung vom Anfang" beim Literaturfestival "O-Töne" im Museumsquartier in Wien.
Norbert Gstrein fordert seine LeserInnen nämlich nicht nur mit der Fülle seiner Andeutungen heraus, die man wahrscheinlich alle kennen sollte, um tiefer in den Roman einzutauchen, sondern auch mit seinem Ton und der Sprache. Die Sätze wiegen schwer und getragen, viel indirekte Rede und die Geschichte entwickelt sich gemächlich, unspektakulär, um nicht zu sagen zäh. Mit zahlreichen Verweisen auf den Literaturbetrieb und verschiedenste Romane setzt Gstrein einiges an Vorwissen bei seinen LeserInnen voraus. Wer glaubt, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, kann ruhig zugreifen und sich überraschen lassen, wenn die Bombe hochgeht.