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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

24. 7. 2013 - 14:06

Parlamentsbelagerung in Bulgarien

Es ist schwer zu erklären, was die Leute in Sofia eigentlich wollen. Wenn ich sage, dass sie nach Demokratie schreien, heißt es: "Ihr habt ja freie Wahlen!" Ja, haben wir. Sie sind aber nicht ganz frei und nicht ganz demokratisch.

Während ihr das hier lest, kann sich die Situation schon geändert haben. Deshalb entschuldige ich mich im Voraus. Am Sonntag sahen die Dinge so aus: Zwei Polizisten bewachten die Solidaritätsdemo der Bulgaren in Wien am Karlsplatz. Da offensichtlich die Ordnung nicht besonders gefährdet war, aßen die Polizisten ein Eis. Auf der Demo waren ungefähr zehn Menschen. Einer trug einen Protestbanner. "Rücktritt!", schrie irgendjemand. Sein Schrei blieb in der Luft hängen. Im ruhigen Wien nach dem Rücktritt der bulgarischen Regierung zu schreien, hörte sich komisch an.

In Sofia war bis gestern Abend auch alles ziemlich ruhig. Und das, obwohl sich viele Leute schon 40 Tage lang immer wieder vor dem Parlament versammelten, um gegen die Regierung zu protestieren. Laut Polizei 3000 Leute täglich, laut den Protestierenden selber: 30000. Die Proteste waren friedlich, aber laut: Trillerpfeifen, Tromben, Vuvuzelas und vor einigen Tagen sogar eine Sirene aus dem Zweiten Weltkrieg.

Mein Freund Ivan geht jeden Tag zum Protest. Er ist um halb sechs fertig mit der Arbeit, schaltet seinen Computer aus, duscht sich im Büro um Zeit zu sparen und schneller beim Parlament zu sein. Auf dem Weg kauft sich Ivan ein Bier. Er trifft sich mit Freunden in einem Park neben dem Parlament und sie gehen gemeinsam protestieren. Jeden Tag. Seit mehr als einem Monat.

Proteste in Sofia

EPA

Proteste in Sofia am 23. Juli 2013

Die Proteste gegen die Koalitionsregierung aus Ex-Kommunisten, der ernsthaft mit dem ehemaligen Geheimdienst verwickelten ethnisch-türkischeen Partei DPS und den Ultranationalisten von „Attaka“ begannen mit der Ernennung von Deljan Peevski, einem Medienmogul mit dunkler Vergangenheit, zum Chef der Agentur zu nationalen Sicherheit. Somit wurde laut vielen die Mafiabekämpfung der Mafia selbst übergeben. Die Bürger wurden wütend und sie stürmten den Platz vor dem Parlament. Die Ernennung von Peevski wurde innerhalb weniger Tage zurückgezogen, aber die Protestierenden blieben. Jetzt verlangten sie den Rücktritt der Regierung.

Gestern aber hat sich die Situation geändert. Gegen Mittag wurde Sofia von der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding besucht. Ich weiß nicht, wie oft sie das Wort „Oligarchie“ zu hören bekam. Am Ende stellte sie aber fest: „Die Oligarchie und die Demokratie können nicht koexistieren.“ Die Bürger, die sich mit Reding trafen, verlangten, dass über Bulgarien ähnliche EU-Sanktionen wie damals über Österreich, bei der Bestellung der schwarz-blauen Regierung, verhängt werden. Die EU-Kommissarin äußerte sich allerdings nicht dazu, ob diese Sanktionen zu gesellschaftlichen Veränderungen in Österreich geführt haben.

Zwischen Bulgarien und Österreich gibt es einen wichtigen Unterschied – während man hier an der Richtigkeit der EU-Entscheidungen ab und zu zweifelt, betrachtet man in Sofia die EU als einzigen möglicher Retter aus den Klauen der russischen Interessen und des ehemaligen kommunistischen Geheimdienstes.

Gestern Abend eskalierte die Lage. Die Protestierenden umzingelten das Parlament und hinderten 100 Abgeordnete am Verlassen des Gebäudes. Nach 22 Uhr spitzte sich die Lage noch weiter zu – es kam zu Zusammenstößen zwischen den Protestierenden und der Polizei. Es gab mehrere Verletzte. Diese blutigen Köpfe aber öffneten nach 40 Tagen von Protesten den Weg der Ereignisse in Sofia in die internationalen Medien. Etwas, wonach sich meine Freude dort seit langem sehnen.

Es ist schwer, meinen österreichischen Freunden zu erklären, was die Leute in Sofia eigentlich wollen. Wenn ich sage, dass sie nach Demokratie schreien, sagen sie: "Ihr habt ja freie Wahlen!" Ja, haben wir. Sie sind aber nicht ganz frei und nicht ganz demokratisch. Mein Land ist so tief im Sumpf der Oligarchie und der Korruption versunken und ich habe keine Ahnung wie es da rauskommen kann.

Vielleicht muss nächste Woche niemand mehr am Karlsplatz zu protestieren. Vielleicht hört die Regierung zu und gibt ihre Macht endlich auf. Wer weiß. To be continued.