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Tim R. Zazzara

Der Wortlaut-Gewinner 2012 berichtet vom Wettlesen in Klagenfurt.

7. 7. 2013 - 10:26

Die Idylle schlägt zurück

Ein Totalverriss, zwei neue Favoriten und eine Prognose für die Zukunft der Literatur - die Samstag-Bilanz von den Tagen der deutschsprachigen Literatur

Zunächst liest Hannah Dübgen einen Text über eine Mutter, deren Kind ohne Augäpfel geboren wird. Ein einfühlsamer und ehrlicher Text, der vom Publikum (wenn mich der lange Beifall nicht trügt) besser bewertet wurde als von der Jury. Die Juroren loben die "leise, kluge Empathie", aber der Grundtenor bleibt, dass der Text insgesamt nicht ganz geglückt ist. Die Stellen in der Du-Form drohen in Pathos abzurutschen, dass eine Mutter mit ihrem Säugling über Chromosomen spricht, wird als unplausibel bemängelt. Spinnen spricht von Idylle. Der Text wolle keine Probleme aufzeigen, sondern ein Heilmittel für Probleme sein. Er findet es interessant, dass es solche Texte, die mit einer Vision enden, heute noch gibt. Er macht aber auch klar, dass das nicht sein Fall ist.

Als nächstes kommt Roman Ehrlich mit einem Text über ausbrechende Vulkane, Utensilien, mit denen sich Rohrbomben zusammenbasteln lassen, Apokalypsen und vielem mehr. Kein leichter Text, aber sehr atmosphärisch erzählt. Die Jury überschlägt sich vor Lob und es ist bald klar, dass Ehrlich als ernsthafter Kandidat für einen der Preise in Frage kommt. Das Offene am Text wird als "das Plus der Geschichte" gesehen. Keller lobt die "verschiedenen Sprachregister" und Passagen, die an verschiedene "historische Romane" erinnern. Spinnen outet sich als "spätabendlicher Fernsehguckjunkie", erwähnt Stirb Langsam 4.0 und lobt, dass hier versucht wird, bestimmte Themen (Apokalypse), die sich eher in trivialen Genres finden, wieder literarisch zu machen.

Burkhard Spinnen

APA /Gert Eggenberger

Jury-Mitglied Burkhard Spinnen

Ein weiterer Favorit dürfte sicherlich Benjamin Maack sein. In seiner Geschichte geht es um einen Heranwachsenden, der Käfer erforscht und eine recht problematische Beziehung zu seinen Eltern pflegt. Der Text ist der witzigste des Tages, aber auf eine schön subtile Art, ohne durch den Witz an Tiefgang zu verlieren. Die Charakterisierung von Mutter und Vater gefällt der Jury sehr. Dass der Autor es schafft, einen Satz wie "Ich liebe dich" in direkter Rede gelungen einzubauen (und zwar nicht auf die Ecosche Manier als Zitat), wird gelobt.

Und die Idylle schlägt zurück!

Auch der Schluss dieses Texts, so wieder Spinnen, komme ihm idyllisch vor. Damit meint er wohl die Versöhnlichkeit am Ende der Geschichte, die Lösung des Konflikts. Aber ist die wirklich so eindeutig? "Es gibt die Idylle als Intention wieder", meint Spinnen jedenfalls. Der Beginn einer neuen Literaturära? Zurück zur Erbauungsliteratur? Schau ma mal.

Als letztes stellt Nikola Anne Mehlhorn eine Geschichte über den Milleniumswechsel, das Verschwinden eines Kindes und eine Frau, die mit ihrem Mann unzufrieden ist, vor. Mehlhorn kann einem Leid tun, weil sie den zweiten (und letzten) Totalverriss der Veranstaltung erntet. Weder die allgemein gehaltenen, essayistischen Passagen gefallen der Jury, noch die Beziehungsgeschichte. Die Geschichte erkläre zu explizit, anstatt zu zeigen (Show, don't tell! Was wäre der Wettbewerb gewesen, wenn dieser Kritikpunkt nicht wenigstens einmal gefallen wäre?). Die Geschichte sei auf dem Niveau der (im Text vorkommenden) Teebeutelsprüche, der Text langweile sich mit sich selber. Spinnen hat noch ein Resterbarmen und rät der Autorin, dass man seine Figuren mehr lieben muss. Hört sich allemal freundlicher an als das mit den Teebeuteln.

Alles dreht sich um Burkhard Spinnen

Und weil Normalsterbliche das bunte Treiben in der Regel im Fernsehen betrachten, ich aber direkt im Studio sitze, hier zum Abschluss ein paar Trivia, die man im Fernsehen wohl nicht zu sehen bekommt:

  • Wenn witzige Texte verlesen werden, lacht das Publikum, die Juroren aber kaum jemals. Zählt wohl unter Professionalität.
  • Burkhard Spinnen hält jeden Morgen eine Ansprache, doch bitte die Mobiltelefone abzuschalten und droht mal mit der NSA, die alles abhört, mal stellt er mit epileptisch anmutenden Zuckungen den Vibrationsalarm pantomimisch dar.
  • Burkhard Spinnen ist immer als erster Juror im Studio.
  • Während der Lesung geht trotzdem ein Handy los. Eine Dame kramt eine halbe Minute in ihrer Tasche und findet es nicht. Schließlich (das Handy klingelt immer noch) gibt sie achselzuckend auf.