Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Neuland"

4. 7. 2013 - 17:24

Neuland

Eine persönliche Nachbetrachtung auf die Nacht am Flughafen mit #Morales und #Snowden.

Von Tanja Malle, Ö1-Wissenschaftsredaktion

Das Urheberrecht auf den Begriff "Neuland" hält vermutlich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, der Journalist und Blogger @gutjahr hat das treffend kommentiert.

Was geschah

Zugegeben: Twitter war für mich bis vor wenigen Monaten unbekanntes Terrain, mittlerweile durchstreife ich es mehrmals täglich. Einzuschlafen, ohne einen letzten Blick auf die Timeline zu werfen bzw. noch auf den einen oder anderen interessanten hashtag zu klicken? Kaum möglich. Schon gar nicht, wenn die Welt nach Whistleblower Edward Snowden Ausschau hält und er wie gestern Nacht – warum auch immer – in Wien vermutet wurde.

12 Stunden Neuland

Diesem Tweet folgen aufschlussreiche Stunden. Nachdem der für halb Eins in der Früh recht aufgeweckt wirkende Pressesprecher des Flughafens Wien endlosschleifenartig am Telefon "Da gibt's nix zu sehen" herunterbetet, gilt für www.derstandard.at-Kollegin Olivera Stajić und mich: Nix wie hin. Keine Stunde später finden wir uns überraschend mit einer Handvoll anderer Journalisten auf einer improvisierten Pressekonferenz des bolivianischen Verteidigungsministers wider, der verzögert auch Präsident Evo Morales selbst beiwohnt.

Evo Morales und sein Verteidigungsminister

ORF/Tanja Malle

Morales hört am Nebensofa den Statements seines Verteidigungsministers Ruben Saavedra zu

Wir sollten ihn in den darauf folgenden zehn Stunden noch weitere vier Male treffen und interviewen können: Bei einem improvisierten Statement gegen 03:30, als noch kein Dutzend JournalistInnen anwesend ist; rund sechs Stunden später – unter großem Gedränge – mit Bundespräsident Heinz Fischer; Minuten darauf mit allen in Österreich stationierten Botschaftern der Alba-Länder und zur Mittagszeit bei einem abschließenden Statement kurz vor dem Abflug nach Hause.

Zu seinem Team, das uns mit Informationen versorgt, haben wir lange jederzeit und völlig ungestörten Zugang – schließlich kümmern sich stundenlang weder das offizielle Österreich, noch das Flughafen-Personal um die hier gestrandeten Gäste, von denen die einen am Gang und auf ungemütlichen Stühlen Ruhe und die anderen nach Lösungen für die festgefahrene Situation suchen.

Türschild am Flughafen Wien

ORF/Tanja Malle

Morales verbringt die meiste Zeit in einem kleinen, fensterlosen Zimmer hinter dieser Tür.

Insgesamt sitzt Morales 14 Stunden in Wien Schwechat fest, einige Kommentatoren beginnen, von einem diplomatischen Supergau zu sprechen. Der New Yorker Blogger Alan Chin schreibt später, dass ihm sonst nur ein einziger ähnlicher Fall bekannt ist. Nämlich jener des sudanesischen Präsidenten Umer Hasan al-Bashir, dem von ehemaligen Sowjet-Republiken das Überflugsrecht verweigert worden war. Auf Bashir war allerdings vom Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgestellt worden – eine völlig andere Ausgangssituation als im Fall des demokratisch legitimierte Morales.

Das Interesse der internationalen und später auch der heimischen Medien am in Wien gestrandeten Morales wächst und wächst. Der Guardian, der online quasi täglich Lehrstücke in Sachen zeitgemäßer Berichterstattung mit Hilfe von social media serviert, begleitet die Ereignisse in einem Live-Blog, in dem sich recht früh auch @OliveraStajic und ich wiederfinden. Wir werden, weil wir via Twitter vom Ort des Geschehens in Echtzeit berichten, in zahlreichen internationalen Medien namentlich zitiert, der ORF aufgrund seiner Struktur nicht. Der Standard.at hat ob funktionierender Zusammenarbeit von @binderstefan in der Redaktion und @OliveraStajic am Flughafen von den österreichischen Medien die Nase vorn.

Evo Morales und Heinz Fischer

APA/Helmut Fohringer

Morales zu Fischer: "Danke, Bruder Präsident"

Wofür es längst Zeit wäre

Zugegeben: Nicht allein der ORF, viele traditionelle Medienhäuser und Rundfunkanstalten scheitern daran, die Möglichkeiten, die ihnen das Internet theoretisch bietet, praktisch auszuschöpfen. Zu den allgemeinen Gründen zählt, dass es an Geld, Know-How und Bewusstsein fehlt. Beim ORF wiegt allerdings ein anderer, spezifischer Grund schwerer als die obengenannten: Das über ihn von der Medienbehörde KommAustria verhängte Social-Media-Verbot. Es ist EU-weit einzigartig und verunmöglicht unter anderem auf Ereignisse, die abseits redaktioneller Bereitschaftszeiten und üblicher Sendeschemen stattfinden, adäquat zu reagieren.

Der ORF ist eines der größten Medienunternehmen des Landes und verfügt über eine großartigen Pool an MitarbeiterInnen. Neben den bekannten Aushängerschildern gibt es Dutzende KollegInnen, die mit Social Media und Datenjournalismus bestens bekannt sind. Und sich in ihrer Freizeit damit beschäftigen, weil ihnen beruflich die Hände gebunden sind. Geschäftsführung, Politik und Zivilgesellschaft täten gut daran, sich intensiv für die Aufhebung des Social-Media-Verbots einzusetzen. Vorausgesetzt, ihnen ist nicht nur der Fortbestand, sondern auch die Reichweite des ORF und seine Relevanz ein Anliegen. Warum? Weil gestern Nacht und Vormittag jene JournalistInnen und Medien die Nase vorn hatten, die social-media-affin sind. Wie jene beiden Kollegen von Russia Today, die für ihren Sender binnen Minuten via Tablets ein Live-Interview mit dem bolivianischen Verteidigungsminister auf die Beine stellen. Lange bevor die trägen Übertragungswägen herkömmlicher Medienhäuser in Schwechat eingetroffen sind. Oder wie jene Kolleginnen vom Guardian, die zunächst aus Australien den Live-Ticker fütterten, bevor wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit die KollegInnen in London diese Aufgabe übernahmen. Sie lieferten ihrem Publikum das Öl des 21. Jahrhunderts: Information. Und zwar ohne auf zeitliche Beschränkungen, Programmstruktur, Sendeschemen oder sonstige Hindernisse achten zu müssen. Sie führten vor, wie man unter Dinosauriern die Nase vorne hat. Die Landwirbeltiere sind bekanntlich ausgestorben, ihre medialen Pendants müssen das nicht. Vorausgesetzt sie wagen bzw. dürfen Neuland betreten und es mitgestalten.