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Günter Hack

Internet-Faktotum

27. 6. 2013 - 10:30

Elefantenjagd: George Orwell über Edward Snowden

Die von Edward Snowden aufgedeckten Überwachungsaktivitäten der Geheimdienste folgen einer alten Logik: Der des Empire. Doch dessen Grenzen verlaufen im Netzzeitalter anders.

„Selbst dem Briten George Orwell wäre ein solches Überwachungsprogramm im Leben nicht eingefallen“, heißt es in einem der jüngsten Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ über die Enthüllungen des Geheimdienst-Whistleblowers Edward Snowden im britischen „Guardian“. Ganz im Gegenteil. Eric Arthur Blair alias George Orwell war ein Insider des späten britischen Empire. Bereits in seiner autobiographisch grundierten Kurzgeschichte „Shooting an Elephant“ von 1936 ist im Keim angelegt, was sich später zu den unheimlich präzisen Darstellungen totalitären Kontrolldenkens in „Animal Farm“ und „Nineteen Eighty-Four“ entfalten sollte: Das Spiel von Repräsentation, Kontrolle, Gewalt und Verachtung zwischen Machthabern und ihren Subjekten, das sich in verschiedensten Konstellationen bis heute fortsetzt.

„In a job like that you see the dirty work of Empire at close quarters.“
– George Orwell

Blairs Alter Ego, als Kolonialpolizist im Burma der 1920er Jahre tätig, wird in der Geschichte herbeigerufen, um einen Arbeitselefanten zu töten, der einen Mann totgetrampelt hat. Eigentlich will der Erzähler den Elefanten, der sich wieder beruhigt hat, verschonen, doch als Repräsentant des Empire ist er Gefangener der Herrschaftslogik. Er muss den Elefanten töten, wenn er sich nicht vor dem versammelten Mob lächerlich machen will – und er tut es auch.

Abhören als Staatsraison

Im Zweiten Weltkrieg kämpfte das Empire um sein Überleben. Es siegte mit Hilfe der USA und vor allem dank der Dechiffrierung der deutschen Kommunikationssysteme durch Genies wie Alan Turing. Spätestens mit Unterzeichnung des UKUSA-Übereinkommens zwischen Großbritannien und den USA am 5. März 1946 ist rechnergestützte „Signal Intelligence“, die möglichst umfassende Kommunikationsanalyse, einer der wichtigsten Stützpfeiler transatlantischer Sicherheitspolitik.

Die durch den US-Whistleblower Edward Snowden bekannt gewordenen Abhörprogramme der National Security Agency (NSA) und ihres weniger bekannten britischen Gegenstücks Government Communications Headquarter (GCHQ) sind die logische Fortsetzung dieser Tradition. Im Laufe der Jahre haben die Dienste es geschafft, sich der öffentlichen Wahrnehmung und Kritik weitestgehend zu entziehen, ob etwa die Internet-Spionagetätigkeiten der NSA gesetzeskonform sind oder nicht, entscheidet mit dem US Foreign Intelligence Surveillance Court ein Organ, dessen Sprüche der Geheimhaltung unterliegen.

Geldregen dank Terrorpanik

Das ermöglichte es ihnen, sich weiter auszudehnen, die Terrorpanik nach dem 11. September dürfte dann auch jedes finanzielle Problem der Dienste gelöst haben. Als etwa die Regierung von David Cameron im Oktober 2010 ihr Verteidigungsbudget vorgestellt hat, mussten alle Teilstreitkräfte empfindliche Einschnitte hinnehmen – bis auf den Geheimdienst, der umgerechnet 570 Millionen Euro erhielt, um seine Cyberwar-Aktivitäten auszubauen.

Diese Expansionsbewegung stößt nun an ihre Grenzen. Dabei spielen zwei zentrale Aspekte eine wichtige Rolle, der eine quantitativer, der andere qualitativer Natur. Zuerst zum quantitativen, und zwar aus einer bekannten Perspektive: Derjenigen der Massenmedien. Jeder politisch interessierte Mensch kennt heute die Namen Julian Assange und Edward Snowden, aber kaum einer weiß noch, wer Nicky Hager ist. Der neuseeländische Journalist veröffentlichte Mitte der 1990er Jahre ein Buch und eine Serie von Texten über die Arbeitsweise der Dienste in seinem Heimatland, wobei grundlegende Fakten über das Abhörsystem ECHELON bekannt wurden. Die Debatte schwappte auch kurz nach Europa, aber die Aufregung darüber hielt sich in Grenzen. E-Mail nutzte damals nur eine vergleichsweise kleine Gruppe, von der Erfassung des internationalen Faxverkehrs fühlte sich wohl auch nur eine Minderheit betroffen.

Geheimdienstarbeit als Innenpolitik

Heute ist die Internet-Nutzerschaft ungleich größer als Mitte der 1990er Jahre. Das bedeutet, dass sich auch die Kontaktfläche zwischen Bevölkerung und Geheimdiensten vervielfacht hat. Wenn sich aber die Kontaktfläche vergrößert, werden gleichzeitig die vorher mit großem Aufwand verschleierten Konturen des Geheimdienstapparates sichtbar. Unschuldige landen auf No-Fly-Listen, Referrer von Fahndungsdatenbanken tauchen bei bestimmten Schlüsselwörtern im Blog auf. Anders als im Fall ECHELON dürfen die Dienste auch nicht darauf hoffen, dass die Öffentlichkeit ihre Aktivitäten schnell wieder vergisst, denn mit der Kontaktfläche erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Fehlern und anderen Aufmerksamkeit erzeugenden Ereignissen.

Diese Ausdehnung könnte sogar den Diensten selbst gefährlich werden, denn die NSA ist nach wie vor Teil des Militärs – und dem Schnüffeln im Inland ohne richterlichen Beschluss sind sogar nach den drakonischen US-Antiterrorgesetzen Grenzen gesetzt. Auf den ersten Blick mag es noch so scheinen, als ob die imperiale Außengrenze zwischen US-Bürgern und dem Rest der Welt verlaufen würde. Das zumindest ist die Version, die US-Politiker gerne ihrer Wählerschaft verkaufen wollen. In Wirklichkeit verläuft sie längst zwischen Insidern und Outsidern des Geheimdienstkomplexes, und zwar über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg.

Selbstzerstörerische Logik

Die Expansionsbewegung der Dienste und ihrer Überwachungssysteme gehorcht längst einer Eigendynamik, die Orwell bereits im Kleinen beschrieben hat: Wenn die mitgebrachte Winchester nicht reicht, dann muss halt eine Elefantenbüchse her. Die Erfassungssysteme folgen der digitalen Netzwerktechnik bis in die kleinste Ritze der zeitgenössischen menschlichen Existenz. Wie in Orwells Geschichte wird auch der wohlmeinendste Staatsschützer von der totalitären Logik mitgerissen.

„It was a tiny incident in itself, but it gave me a better glimpse than I had had before of the real nature of imperialism – the real motives for which despotic governments act.“ – George Orwell

Geheimdienstchefs wie der GCHQ-Leiter Iain Lobban modellieren ihre Argumentation entlang der scheinbar naturgesetzlich vorgegebenen binären Eigenschaften der Kommunikationstechnik: Entweder wir kontrollieren das Netz total, oder da draußen herrscht totales Chaos. Ein manichäistisches Denkfigürchen, das sich hervorragend dazu eignet, weiteres Nachdenken über den Sinn des Datensammelns zu stoppen. Die Politik gibt die Verantwortung gerne ab. Wer will sich schon vorwerfen lassen, nicht buchstäblich alles gegen sämtliche vorhersehbaren Bedrohungen unternommen zu haben? Nur zeichnen sich wahre Terrorakte leider exakt dadurch aus, dass man sie nicht kommen sehen kann. Und der Security-Apparat ist bisher jeden Beweis dafür schuldig geblieben, dass Anschläge nur durch die permanente Totalüberwachung aller Bürger verhindert werden konnten.

Delegitimation des digitalen Staates

Diese Denkfigur ist strategisch mit dem zweiten zentralen Aspekt der Überwachungslogik gekoppelt: Anders als die früher von NSA und GCHQ abgehörten Telefoniesysteme dient das Internet nicht nur der Kommunikation zwischen Menschen, es ist integraler Bestandteil zahlloser Prozesse in Verwaltung und Produktion. Anlässlich eines viel beachteten öffentlichen Auftritts am International Institute for Strategic Studies sagte GCHQ-Chef Lobban 2010 dann auch, man müsse das Netz für Wirtschaft und E-Government sichern. Er mahnte daher eine enge Kooperation zwischen Privatwirtschaft und Staat an, vor allem zwischen Providern und Geheimdienst.

Dieses Argument lässt sich aber - wie alle Vexierbilder digitaler Medientheorie - gegen die pauschale Überwachung wenden. Welches Vertrauen kann ein Bürger – speziell ein Bürger außerhalb der UKUSA-Staaten – noch in E-Government-Prozesse haben, wenn dritte Mächte den Datenverkehr vollkommen unbeobachtet mitschneiden und manipulieren können?

Retro-Leninismus als Megatrend

Welche Auswirkungen hat die von der US-Nachrichtenagentur Bloomberg gemeldete Erkenntnis, dass die NSA von Microsoft vorab unbehobene Softwarefehler übermittelt bekommt, auf die Arbeit des Sicherheitsapparats selbst? Welche Beweiskraft besitzt die ausgefeilteste Forensik, wenn der Inhaber solcher Zero-Day-Expoits sogar an einem installierten Polizeitrojaner vorbei kompromittierendes Material auf dem Rechner seines Opfers ablegen kann? Was bleibt vom Kern der Demokratie, von der Gewaltenteilung, wenn sich eine Parallelwelt der Exekutive davon trennt und systematisch dafür sorgt, niemandem mehr Rechenschaft schuldig zu sein? „Ohne Sicherheit keine Freiheit!“ tönen die Überwachungsprofiteure. Mag sein, aber Sicherheit ohne Recht ist wertlos.

„As soon as I saw the elephant I knew with perfect certainty that I ought not to shoot him. It is a serious matter to shoot a working elephant – it is comparable to destroying a huge and costly piece of machinery – and obviously one ought not to do it if it can possibly be avoided.“ – George Orwell

Das Motto der Überwachungshardliner ist im Grunde leninistisch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Totale Kontrolle soll im Netzzeitalter schwindendes Vertrauen in nationalstaatliche Institutionen ersetzen und Handlungsfähigkeit vortäuschen. Ohne Vertrauen gibt es aber keine Gesellschaft, ohne Gesellschaft gibt es keinen Staat. Der Überwacher untergräbt also ständig seine eigene Geschäftsgrundlage. Trotzdem ist die nächste Stufe der Eskalation vorhersehbar: Die Regierungen außerhalb des UKUSA-Komplexes werden unter Hinweis auf den Kontrollverlust die eigenen Geheimdienste mit noch mehr Mitteln und Überwachungsbefugnissen ausstatten, die Polizeien werden folgen, Stichwort Vorratsdatenspeicherung sämtlicher Inhalte auf Sozialen Netzwerken, alles zum Schaden elementarster bürgerlicher Grundrechte.

Das Skelett des Elefanten

Dieses letztlich autodestruktive Wettrüsten erinnert an die Situation im Kalten Krieg. Drohten damals Atomwaffen die materielle Basis der Gesellschaften zu vernichten, so ist heute der Überwachungswahn dabei, deren ideelle Grundlagen zu zerfressen. Das westliche Basisnarrativ, die große Erzählung von der individuellen Freiheit, ist bereits stark beschädigt. In dem erwähnten Vortrag von 2010 hat Iain Lobban mehr internationale Kooperation bei der Bekämpfung von Internet-Bedrohungen angemahnt. Man sollte sich eingestehen, dass überschießende unkontrollierte Überwachung – egal von welcher Seite – zu ebendiesen Bedrohungen gehört, immerhin führen die Kontrollstaatsbefürworter selbst gern die Rede vom „Cyberwar“. Im Kalten Krieg hat man versucht, solche Probleme durch Waffenkontrollgespräche wenigstens ansatzweise zu zivilisieren. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, dasselbe mit der Internetspionage zu versuchen.

„I perceived in this moment that when the white man turns tyrant it is his own freedom that he destroys.“ – George Orwell

George Orwells "Shooting an Elephant"

penguin books

In Orwells Geschichte bleibt von dem Elefanten nur noch das Skelett übrig. Die Bewohner des Elendsviertels, in dem das Arbeitstier kurz außer Kontrolle geraten war, sicherten sich schnell dessen Fleisch. Der entsetzte Eigentümer des Tiers, ein Inder, konnte Orwells Alter Ego nichts anhaben, als weißer Sahib stand dieser auf der richtigen Seite der imperialen Macht. Er sei am Ende glücklich darüber gewesen, dass der Mann im Armenviertel von dem Elefanten getötet worden sei, schreibt Orwell, denn dies habe ihn ins Recht gesetzt und gegen Kritik immunisiert. Der Rest der Gesellschaft ist aus Perspektive des imperialen Polizisten am Ende nur noch ein potenzieller Kollateralschaden.

„I often wondered whether any of the others grasped that I had done it solely to avoid looking like a fool.“ – George Orwell

Eric Arthur Blair alias George Orwell hätte am 25. Juni 2013 seinen 110. Geburtstag gefeiert. Die Zitate im Artikel sind seiner Kurzgeschichte „Shooting an Elephant“ entnommen.