Erstellt am: 26. 6. 2013 - 19:05 Uhr
Mein Zuhause ist die Welt
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Man muss ja bekanntlich den Titel eines Albums nicht immer gleich als allzuwörtliche Message lesen, im Falle aber von Matias Aguayos neuer Platte verrät uns schon ihr Name ein bisschen, um was es hier gehen soll: "The Visitor" nennt sich Aguayos drittes Album, aufgenommen hat er es als Weltreisender zwischen den Orten in über den Globus verstreuten Studios.
Der chilenisch/deutsche Musiker, Produzent, DJ und nicht zuletzt Stimmakrobat Matias Aguayo ist ohnehin ein Luftikus zwischen den Möglichkeiten, mit "The Visitor" hat er jetzt ein Opus Magnum des Wildstyles aus dem Ärmelchen geschüttelt, das dabei aber so mühelos daherkommt wie der leise Schlag eines von einem Libellenflügel gestreiften Tamburins.
2002 hat Aguayo gemeinsam mit Dirk Leyers im Duo Closer Musik beim Kölner Label Kompakt ein heute noch gültiges Manifest des dunklen und sexy gehauchten Technos namens "After Love" veröffentlicht, nur um das Projekt kurz darauf aufzulösen. Es folgten - ebenfalls bei Kompakt - das Solo-Album "Are You Really Lost", das noch wie die Vorgängerarbeit stark minimalistisch und bedrohlich glänzte, und 2009 der Zweitling "Ay Ay Ay", der schon dreihundert Takte deutlicher an global-folkloristischer Beatforschung und besserer Strand- und Sonnenschirmlaune interessiert war. Seit ein paar Jahren betreibt Aguayo nun mit Cómeme auch ein eigenes - sehr gutes - Label, das sich vor allem mit den Releases noch wenig bekannter lateinamerikanischer Produzenten befasst. Und so auch als Netzwerk das Fundament für Matias Aguayos neues Album bildet.

Matias Aguayo
Als Homebase für "The Visitor" hat Matias Aguayo zwar immer wieder Berlin gedient, ein Großteil der Platte aber ist im Ausland, vor allem in Lateinamerika, entstanden: Aguayo war in Mexiko, in Argentinien, in Kolumbien, aber auch in Frankreich unterwegs und hat da wie dort mit ansässigen Musikern, Produzenten, Sängerinnen und Sängern zusammengearbeitet.
Der kolumbianische, für gewöhnlich eher der Tradition verpflichtete Percussionist Luis Miguel Jaramillo ist auf "The Visitor" ebenso zu hören wie gute Menschen aus dem Cómeme-Camp wie Daniel Maloso oder Alejandro Paz und noch eine Handvoll mehr.
So ist "The Visitor" ein in jeder Hinsicht vielstimmiges Album geworden. Die Gastbeiträge werden hier jedoch nicht großartig pompös wie vielleicht auf einem HipHop-Album als Features ausgestellt, vielmehr entsteht hier ein dicht geschichtetes Mit- und Durcheinander. Ein Fauchen, ein Stöhnen, ein Zwitschern, ein tanzbares Rappeln im Karton - der hier evenutell auch als Percussion gedient haben mag. Auf dem Album steht zwar der Name "Matias Aguayo", fast durchgehend klingt aber "The Visitor" wie ein kunterbuntes Gemeinschaftswerk, ein aufgekratzt orchestrierter Klang der Familie.

Matias Aguayo
Aguayo hat die Fäden in der Hand, mit seinen Kolleginnen und Kollegen hat er so bislang unbekannte Verbindungslinien hergestellt: Zwischen lateinamerikanischen, rythmisch vertrackten Musiken wie Cumbia hier und psychedelisch zischender Tropicalia da einerseits, und sehr gerne auch als "deutsch" codiertem Techno-Minimalismus andererseits. Er lässt hier aber nicht bloß unter Samples, die als irgendwie obskur und "ethno"-hafte Referenzgrößen gemeint sind, eine gerade Bassdrum durchlaufen und fühlt sich dabei - wie das so manch ein Baukastenproduzent heute gerne tut - als Neuerleuchter der Welt. Er hat ein tatsächlich verwirrendes Beat-Kauderwelsch angerichtet und aus verschiedenen Mustern eine neue Sprache entwickelt.
Genauso aber bleibt zwischen all dem munteren Geklöppel und den sich quirlig überlagernden Chants Platz für ein, zwei dunkle Momente: Vor allem die mit - ebenfalls Cómeme - Philipp Gorbachev gebauten Stücke, die wohl an bis auf die Knochen reduzierte No-Wave-Elektronik aus den späten 70ern angelehnt sind, schimmern unheimlich.
"The Visitor" ist eine abenteuerliche und im besten Sinne ganz und gar zerfaserte Platte. Matias Aguayo hat die Styles zusammengeklaubt und ein komisches Universum geformt. Na gut: Aguayo ist zwar vielleicht bloß nur ein Besucher, er scheint aber sich überall ganz schnell zuhause zu fühlen. Eine so genannte World Musik - so kann sie funktionieren.