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Alex Wagner

Zwischen Pflicht und Kür

26. 6. 2013 - 13:55

Generation Rindertrance

Sam Byers zynischer und psychologisch tiefgängiger Debütroman "Idiopathie" handelt von der Liebe und den Problemen der Thirtysomethings, die sich noch immer nicht entscheiden können, was sie mit ihrem Leben anfangen.

Ideopathisch - so steht's auf Wikipedia - sind Krankheiten, deren Ursache unbekannt ist oder noch nicht ausreichend erforscht wurde. Ideopathischer Rinderwahn wird in diesem Zusammenhang unter anderem erwähnt und eine Form dieser Krankheit zieht sich auch durch Sam Byers Erstlingsroman. Im Norden Englands werden immer mehr Fälle von Ideopathischer Rindertrance publik, wie die Seuche in den Medien genannt wird. Sie lässt Kühe mit weiten Augen und fahlem Blick ins Leere starren. Auf äußere Einflüsse scheinen sie nicht zu reagieren. Tausende Tiere werden prophylaktisch geschlachtet, damit die Seuche nicht auf andere Arten, oder sogar den Menschen, übertragen wird.

Kühe in Kleidern, Cover von Sam Byers Buch "Idiopathie"

Tropen Verlag

Sam Byers "Idiopathie" ist im Tropen Verlag erschienen und wurde aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein übersetzt.

In einer Kleinstadt leben die drei Hauptfiguren. Katherine ist eine zynische, bitterböse, männerhassende Kettenraucherin. Sie will alles unter Kontrolle haben, arbeitet im Facility Management einer Firma und ist genervt von ihrem Job. Immer wieder versucht sie zu kündigen. Wenn sie sich abreagieren will, führt sie eine Feueralarm-Probe durch und misst die Zeit, die benötigt wird, bis das Firmengebäude evakuiert ist. Darwinistisch bezeichnet sie die Übung, wenn sie feststellt, dass jeder zweite Mitarbeiter verbrannt wäre.

Vor einem Jahr hat Daniel mit Katherine Schluss gemacht. Seither schläft sie mit jedem x-beliebigen Dahergelaufenen. In der Arbeit hat sie zwei Affären. Sex, ohne Gefühl. Sie würde nie offen zugeben, dass ihr Daniel fehlt, vielmehr versucht sie, den Hass gegen ihn zu richten und ihre Wut zu kanalisieren.

Daniel wiederum ist froh, dass die Beziehung mit der destruktiven Katherine vorbei ist. Ganz losgekommen von ihr ist er allerdings nicht. Zu viele Leichen hat er im Keller, zu viele Ereignisse wurden nicht angesprochen und über das Ende der Beziehung haben die beiden auch noch nie geredet. Daniel ist ein Schlurfi, ein Angepasster, ein "Scheiß-Schutzpatron der Selbstgerechtigkeit". Er ist in einer "Vorzeige"-Beziehung mit Angelica. Er, PR-Manager eines Lebensmittelkonzerns, Sie, Alt-Hippie, mit dem Drang die Welt zu verbessern. Daniel weiß nicht, was er von seiner Beziehung mit Angelica halten soll, von der vorgetäuschten Harmonie, der Eintönigkeit. Ist er wirklich glücklich mit ihr? Oder zweifelt er nur, weil er die Sticheleien von Katherine gewöhnt ist? Auch mit Angelica hat Daniel Probleme, die werden aber nicht ausgesprochen, sondern in hundertfachen "Ich hab dich lieb, Schatz" erstickt. Daniel weiß oft nicht, ob er noch er selbst ist, oder ob er nicht jemand anderen mimt, um seine Beziehung ertragen zu können.

Der dritte Hauptprotagonist in Sam Byers Roman ist Nathan, ein Bär von einem Mann, der einzige Freund von Daniel und Katherine. Er besorgt die Drogen für anderer Leute Partys, wurde abhängig, hat zuviel gesoffen. Nachdem er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen und am ganzen Körper Narben von Schnittwunden davon trug, wurde er in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert. Als er wieder draußen ist, muss er mit seiner Mutter leben, die versucht, aus seinem Leiden Kapital zu schlagen. Sie hat eine Website gegründet Überlebendemütter dot com, ein Buch geschrieben, ist auf Twitter und Facebook aktiv und zu Gast in TV-Talkshows. Sie nennt sich selbst Mutter Courage und kämpft für alle Mütter, die ein Trauma erlitten und es überlebt haben. Das Trauma heißt Nathan und sie sei das eigentliche Opfer.

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Ein Anruf Nathans bringt die Handlung im Roman ins Rollen. Er will sich mit Katherine treffen, es täte ihm leid, das mit Daniel, ob sie sich alle drei nicht wieder einmal sehen wollten. Und dann beginnt das psychologische Spiel, das Sich-Selbst-Fragen, wie man es am besten anstellt, dass der jeweils andere zu einem Treffen einwilligt, wie das erste Hallo am Telefon klingt, welchen Unterton und welche Subbotschaft in jeden Satz hineininterpretiert werden könnte. Und das ist die eigentliche Stärke von "Idiopathie": das chirurgische Sezieren der einzelnen Verhaltensmuster, die fisselige Kleinarbeit beim Herausarbeiten der Charaktere. Die ewigen "Was wäre wenn?"-Fragen und selbstreferenziellen Schleifen im Kopf, die jede Geste, jede Mimik, jede Intonation und jedes Wort auf die Goldwaage legen.

Sam Byers schafft es mit seinem Roman, die Probleme der Generation Thirtysomething detailliert zu skizzieren, Layer für Layer Unsicherheiten, Ängste und Probleme aufzudecken. Von verlorener Liebe und nicht erfüllenden Berufen bis zu falschem Aktionismus und vorgegaukelten Werten reicht sein Spektrum und das alles ist witzig, ohne Pointen zu forcieren.

Ob die Rindertrance dabei als Metapher dient und längst auf die Menschen übergesprungen ist, die mit verklärtem Blick auf ihre Probleme starren, die sie Leben nennen, ohne etwas daran zu ändern, lässt Byers offen. Hobbypsycholog_innen, die mit stellenweise derbem Humor und langatmigen Strecken klarkommen, sollten bei "Idiopathie" zugreifen.