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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

26. 6. 2013 - 12:06

Meine unbekannte Familie

Auf dem Balkan gibt es einen alten Spruch: Im Westen kümmert sich um den alten Menschen seine Altersvorsorge, auf dem Balkan macht es die Familie.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Jeden Mittwoch in FM4 Connected (15-19h) und als Podcast.

Ich kenne meine Wurzeln väterlicherseits, aber die mütterlicherseits sind mir völlig unbekannt. Mein Uropa, der Vater meiner Oma, wurde irgendwo im Ural geboren. Er war bei der „Weißen Garde“ in Russland und ist vor der Oktoberrevolution nach Bulgarien geflüchtet. Meine Oma erzählt mir, wie sich seine Familie auf der ganzen Welt verstreut hat. Meine Uroma hatte zehn Geschwister. Jedes von ihnen hatte wohl zwischen zwei und drei Kinder. Diese Kinder haben dann selbst vielleicht zwei Kinder im Schnitt. Und die dann noch weiter zwei. Das sind ungefähr 100 Cousins und Cousinen, die ich nicht kenne!

Stammbaum

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Während ich mich am Rand des Hirnschlags befinde, wenn ich versuche, mir viele Details zu merken, funktioniert das Gehirn meiner 83-jährigen Oma wie ein Computer: Sie kann mir die Geschichte von jedem einzelnen Verwandten erzählen. Mein Uronkel Stamat war Gärtner in Graz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch ihn habe ich Familie in der Steiermark und in Niederösterreich. Sein Bruder, Uronkel Ferdinand, hat sich trotz seines Namens entschieden, nach Istanbul zu ziehen, wo er mit Holzkohle handelte. Durch ihn verteilte sich die Familie bis nach Alexandria. Die Nachkommen meiner Urtante Vela, die selbst Analphabetin war, leben in Südafrika, wo sie in der IT-Branche arbeiten. Meine Tante Dusia ist in Varna geblieben, ihre Kinder betreiben dort eine große Wasserrutsche. Die Kinder von Uronkel Boris leben in Seattle, wo sie in den Boeingfabriken arbeiten…

Spätestens da hörte ich meiner Oma nicht mehr zu und dachte, sie habe alles erfunden. Bis ich einige Tage später auf einer Hochzeit in Sofia war. Die Trauzeugin kam zu mir und sagte „Weißt du was, wir sind Cousins!“ Sie arbeitet in einem Labor in Berlin. „Du bist immer herzlich willkommen“, sagte sie, „Ein Bett findet sich sicher und hungrig wirst du auch nicht bleiben!“ In meinem Kopf spielte ich schon mit dem Gedanken alle meine Cousins zu besuchen. Wenn ich jeden für einen Monat besuche, sind das 100 Monate. Fast zehn Jahre. Für zehn Jahre hätte ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen. Was aber, wenn meine 100 Cousins und Cousinen mich besuchen wollen? Das sind dann weitere zehn Jahre. Und wie ernähre ich so viele Leute? Ich habe keine Wahl, ich kann sie nicht einfach wegschicken, Familie ist Familie. Aber egal, was meine Altersvorsorge angeht bin ich jetzt beruhigt.