Erstellt am: 20. 6. 2013 - 17:27 Uhr
Arme Piraten
Immer wieder hört man in den Nachrichten von Piraten, die vor den Küsten Somalias mit winzigen Booten riesige Schiffe kapern und das Personal als Geisel nehmen. Dafür - so heißt es - bekommen sie dann Millionen an Lösegeldern.
Doch die Realität schaut anders aus, sagt Nurruddin Farah. In seinem neuen Roman "Gekapert" versucht Farah, der seit Jahrzehnten im Exil lebt, die Fehler der westlichen Berichterstattung über die Piraterie zu korrigieren.
CC-BY-SA-2.0 / Paolo Montanari
Warum finden Sie es immer noch notwendig, über Somalia zu schreiben?
Weil es das einzige Land ist, das ich kenne. Und auch, wenn ich mal länger nicht dort war, kann ich die Entwicklung nachvollziehen. Es war gut für mich, dass ich einige Zeit lang nicht in Somalia war. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens hätte ich nicht überlebt, wenn ich zurückgekommen wäre. Zweitens, eben weil ich nicht in Somalia war, konnte ich ein Buch darüber schreiben. Wenn man zu lange in einem Land ist, über das man schreibt, bekommt man einen soziologischen Blick.
Sie haben gesagt, dass Menschen schnell schützend und mit Abwehr reagieren, wenn man über ihr eigenes Land schreibt. Passiert ihnen das auch, wenn sie über Somalia lesen oder sogenannte Experte/innen darüber reden hören?
Ja, aber nur, was Fakten betrifft. Deshalb möchte ich Irrtümer korrigieren. Ich habe das Buch geschrieben, um publizierte Fehler über Somalia zu korrigieren, die diverse Medien gebracht haben. Sie haben junge, kriminelle Somali als Piraten beschrieben. Aber sie sind keine Piraten. Aber was sind sie? Sie sind Entführer, Kriminelle, die Boote nehmen und sie für zwei, drei Jahre behalten. Wissen Sie, was Piraten sonst noch machen? Ich nehme an, sie töten auch die Besatzung. Töten diese Somali Menschen? Nein, sie versorgen sie über mehrere Jahre hinweg.
Warum werden sie dann als Piraten bezeichnet? Denken Sie, dass es sich dabei um eine Art orientalistischen Diskurs über Afrika handelt?
Suhrkamp Verlag
Kann sein. Die Somali könnte man als Meeresdiebe bezeichnen. Sie warten ab, und dann schlagen sie zu und kapern Schiffe. Was aber in den Informationen fehlt, die wir über die Medien bekommen, ist die Antwort auf die Frage: Wie kann es sein, dass zehn junge Menschen zwischen 18 und 25 mit ein paar kleinen Waffen auf einem sehr kleinen Boot aus Plastik, 12 x 4 Meter groß, hergestellt in Somalia, wo es keine technischen Besonderheiten gibt, ein Schiff kapern können, das drei Mal so groß wie dieses Gebäude, in dem wir gerade sitzen? Wie machen sie das und wer hilft ihnen? Wer sagt ihnen, dass am Donnerstag um 5 Uhr 30 ein Boot, das illegale Waffen von Korea in den Sudan transportiert, die somalische Küste passieren wird?
Irgendjemand muss denen diese Informationen zustecken. Das sind junge Leute. Das Fortschrittlichste, das sie besitzen, ist ein Telefon. Sie sind nicht gebildet, haben keine Telefonnummern von Versicherungsunternehmen in London oder Abu Dhabi. Jemand gibt ihnen diese Informationen und nützt diese jungen Menschen aus. Statt dass die westlichen Medien die Menschen ausfindig machen, die den Somalischen Seedieben diese Informationen füttern; statt dass man herausfindet, wohin das Geld fließt – es geht nämlich nicht zu den jungen Somali – wird einfach gesagt: „Die Piraten haben 400 Millionen Pfund erbeutet“. Dafür gibt es aber keinerlei Beweise. Und doch glauben es alle.
Wenn die Somali das Geld selbst bekommen würde, wäre Somalia eines der reichsten Länder Afrikas.
Genau! Aber wenn man sich die Wohnsituation in einigen Städten ansieht: Die Häuser sind seit 20 Jahren unverändert, die Menschen leben immer noch am selben Ort. Wenn ich plötzlich mehr Geld bekommen würde als ich heute verdiene und besitze, würde ich meine Wohnsituation wohl bald verändern. Diese Menschen haben aber kein Geld.
Aber es gibt auch keine Clans und Gruppen, wo die Anführer das ganze Geld bekommen?
Nein. Es ist Versicherungsbetrug. Da macht jemand viel Geld damit.
"Gekapert" ist in der deutschen Übersetzung von Susann Urban im "Suhrkamp" Verlag erschienen. Ein spannender Roman über die Piraterie, die somalische Diaspora und die politische Gegenwart in Somalia.