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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

20. 6. 2013 - 16:10

Die Armee auf der Reservebank

Die Proteste in der Türkei haben eine wichtige Änderung der AKP-Regierung deutlich gemacht: Das Militär wurde aus dem politischen Geschehen verdrängt.

Nach der Räumung wurde auf dem Taksim-Platz fleißig geputzt und gekehrt. Flaggen wurden von den Gebäuden genommen, Slogans übermalt und selbst im Gezi-Park wurden neue Blumen gepflanzt. Am Taksim sieht es aus, als wäre nichts passiert.

In den letzten Wochen war es hier aber alles andere als friedlich. Es war, als hätte die Türkei eine Zeitreise in die 90er Jahre gemacht. Gewalttätige Polizeieinsätze, nächtliche Straßenschlachten,... eigentlich fehlte da nur noch hyper-trashige Pop Musik die 90er Jahre Party wäre perfekt gewesen.

Davor war es für türkische Verhältnisse ungewöhnlich lange ruhig. In den südöstlichen kurdischen Gebieten kam es zwar immer wieder zu Auseinandersetzungen, aber das interessierte die Eliten in Istanbul, Ankara und Izmir eher wenig.

Während in Griechenland dem Staat das Geld ausging, in den arabischen Ländern Diktaturen gestürzt wurden, in Syrien ein Bürgerkrieg ausbrach, im Irak die Selbstmordanschläge nicht aufhörten und auch im Iran die Lage auch weiter angespannt blieb, war die Türkei bis zu den Gezi-Ereignissen der Ruhepol der Region.

Jetzt hagelt es plötzlich wieder Reisewarnungen, ausländische Investoren überlegen es sich zweimal, ob sie ihr Geld in der Türkei anlegen und die EU verurteilt die türkische Regierung für ihr hartes Vorgehen gegen die Demonstranten.

Die Armee sitzt auf der Reservebank

Das Chaos der letzten Wochen hat eine wichtige Änderung der AKP-Regierung gezeigt: Das Militär wurde aus dem politischen Geschehen verdrängt. Normalerweise ist bei solchen Ereignissen die Armee "mittendrin statt nur dabei", diesmal verhielt sie sich so ruhig wie nie zuvor.

In den letzten Jahren wurden in der Türkei einige Tabus gebrochen. Die politische Entkräftung des Militärs ist wohl das größte. Früher war die Pension von Generälen angenehmer, sie wurden zu Aufsichtsräten in staatlichen Betrieben, zivilen Bürokraten oder sogar zu Staatspräsidenten. Inzwischen kommen Generäle mitunter wegen versuchten Putsches ins Gefängnis.

General Yasar Buyukanit

EPA

Der ehemalige Generalstabschef Yasar Büyükanit war für den "Cyber-Putsch" verantwortlich

Die staatliche Bürokratie und das Militär sind in der Türkei quasi "alte Freunde". Als ziviler Arm des Militärs verteidigte die Bürokratie dessen Interessen in der Politik. Nach dem gescheiterten "Cyber-Putsch" von 2007, versuchte das Verfassungsgericht die Regierungspartei AKP zu verbieten. Nur eine einzige Stimme fehlte damals, um eine Partei, die 49,9% der Stimmen bekommen hatte, zu verbieten und 71 Abgeordneten Politikverbot zu erteilen.

Bitte nicht fressen!

Religiös-konservative und kurdische Parteien wurden in der Türkei immer wieder verboten. Und obwohl die AKP mit einem enormen Wahlsieg an die Macht gekommen ist, hatte ihre Anhängerschaft in den letzten Wochen doch Angst vor einem Putsch oder einem Verbot. Ihr Slogan lautete deshalb "Wir lassen nicht zu, dass ihr Erdogan auffresst." Das war wohl nicht wörtlich gemeint. Aber dass die Angst nicht ganz unbegründet ist, zeigt ein Blick in die türkische Geschichte.

Adnan Menderes war der erste frei gewählte Ministerpräsident nach dem Ende der Ein-Partei-Diktatur 1946. Mit dem Kemalismus nahm er es nicht ganz so streng, dafür öffnete er den türkischen Markt für die internationale Wirtschaft und machte einige unbeliebte kemalistische Reformen rückgängig. Die Muezzine durften zum Beispiel ihren Gebetsruf wieder auf Arabisch ausrufen.

Es waren auch diese Änderungen, die dazu führten, dass Menderes 1961 vom Militär abgesetzt und anschließend erhängt wurde. Damit die Bevölkerung nicht zu empört über die Hinrichtung des gewählten Ministerpräsidenten war, wurde fleißig Propaganda betrieben. Eine der bizarrsten „urban mthys“ war, dass Menderes einen riesigen Fleischwolf hatte, mit dem er aus StudentInnen Hackfleisch machte und sie als Asphaltmaterial verwendete.

Turgut Özal, ein weiterer Reformer, kam nach dem Militärputsch von 1980 ins Amt. Er glänzte ebenfalls mit seiner Wirtschaftspolitik und stabilisierte das Land nach dem Ende der Militärdiktatur. Außerdem suchte er, wie kein Amtsträger vor ihm, den Dialog mit den Kurden. Einen ersten Anschlag überlebte er, aber schließlich starb er während seiner Amtszeit unter mysteriösen Umständen. Mittlerweile wurde der Fall neu aufgerollt und es gibt Indizien für einen Giftanschlag.

Die breite Unterstützung der Bevölkerung allein hat in der Türkei noch nie gereicht, um sich vor dem Militär sicher fühlen zu können. Erdogan meinte die alten Eliten und Putsch-Fans, als er sagte: "Ich muss euch enttäuschen, aber dieser Ministerpräsident wird nirgendwo hingehen".

Erdogan und General Necdet Ozel

EPA

Der aktuelle Generalstabschef Necdet Özel mit Ministerpräsident Erdogan

Was steht noch auf dem Menü?

Die Proteste gehen langsam zurück und Erdogan wurde noch nicht verspeist. In der Zwischenzeit machte sein Vize Bülent Arinc klar, dass die Armee unter der Kontrolle der Regierung ist, und die Kemalisten vergeblich auf einen Putsch hoffen.

Die Justiz verbietet keine Parteien mehr, die Armee bleibt in den Kasernen und die größte Oppositionspartei ist steinalt und reformunwillig. Die "Republikanische Volkspartei" (CHP) hat sich nie an das Mehr-Parteien-System gewöhnen können. Der letzte große Wahlerfolg liegt mittlerweile knapp 40 Jahre zurück.

Die CHP sieht sich dennoch weiterhin als die stolze Partei Atatürks, doch das allein bringt ihr weder Popularität noch neue Ideen. Interessanterweise zeigen manche Umfragen in den letzten Tagen, dass die CHP sogar Stimmen verliert, während die AKP weiterhin auf demselben Niveau bleibt. Der Frust der Demonstrierenden ist also nicht nur auf die Regierungspartei und Erdogan zurückzuführen. Die CHP, die schon immer mehr ein obskurer Atatürk-Fanclub als eine sozialdemokratische Partei war, ist für viele TürkInnen einfach unwählbar.

Die "Nationalistische Aktionspartei" (MHP) erlebt ein ähnliches Schicksal wie die CHP. Mit der Lösung des Kurdenkonfliktes wird ihre politische Bedeutungslosigkeit immer offensichtlicher. Bisher gewann die MHP ihre Stimmen durch Hetze gegenüber Kurden und dem Schüren der Angst vor der PKK. Doch die zieht seit einiger Zeit ihre bewaffneten KämpferInnen aus der Türkei zurück. Wenn es zu einer dauerhaften Lösung des bewaffneten Konflikts zwischen der PKK und dem türkischen Staat kommt, muss sich die MHP neue Themen überlegen.

Die kleinste Oppositionspartei bildet die Fraktion der unabhängigen kurdischen Politiker unter dem Schirm der "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP). Sie kritisierten zwar das Vorgehen der Polizei und Erdogans Ton, aber hielten sich generell aus den Protesten raus. Die BDP setzt sich vor allem für den Friedensprozess ein und vertritt hauptsächlich die Interessen der kurdischen Minderheit. Sie hat ihre heutige Gestalt, so wie die AKP, nach mehreren Verboten von Vorgängerparteien angenommen.

Erdogan, der ewige Vater

Die schwache Opposition hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Überlegenheit der AKP über die Jahre derart gewachsen ist. Neoliberale Wirtschaftspolitik, die Verbauung von Grünflächen und neue Regulierungen für den Alkoholverkauf waren nur die äußeren Gründe für den Protest. Dahinter steckt der Frust der jungen DemonstrantInnen gegenüber Erdogan. Als die AKP 2002 die Wahlen gewann, waren viele der DemonstrantInnen in der Volksschule, jetzt schließen sie die Uni ab. Und Erdogan sitzt immer noch in seinem Amt.

Eine Karikatur in einem türkischen Magazin zeigte letzte Woche einen Jugendlichen, der Erdogan "Kannst du nicht nur ein einziges Mal auf uns hören?" sagt. Die Gezi-Park Bewegung war eine Art pubertäre Rebellion gegen den Übervater Erdogan.

Doch die pubertären Jungs und Mädels wurden nicht alleine gelassen. Die kemalistischen Dinosaurier und andere Urzeitwesen, wie Stalinisten und Maoisten, schlossen sich ihnen schnell an, um die Gezi-Park Bewegung zu einem möglichen Regierungsumsturz zu führen.

Gibt es ein Leben nach Gezi?

Die Regierung stürzt nicht, sie zieht nicht mal die Wahlen vor, aber ihre Beständigkeit, was den Gezi-Park betrifft hat sie aufgegeben. Ein Gericht wird entscheiden, ob der Park umgebaut wird oder nicht. Und falls das Gericht den Umbau zulässt, wird noch in einer Volksbefragung über die Zukunft des Parks entschieden werden. Das klingt schon mal besser und zeigt zumindest, dass die AKP Kompromisse eingehen kann.

Die Gezi-Demonstranten führen ihren Protest gegen die Regierung jetzt stehend weiter. Sie wirken etwas angefressen und beleidigt, während sie erwartungsvoll das Bild von Mustafa Kemal Atatürk anstarren, das auf dem Atatürk Kulturzentrum in Taksim hängt. Manche salutieren sogar davor. Selbst in dieser kreativen minimalsten Form des Protests finden sich die Spuren alter Ideologien.

Während die Medien hierzulande ausführlich von der Polizeigewalt berichteten, ignorierten sie Brandanschläge gegen die Parteizentren der AKP und BDP durch DemonstrantInnen in der CHP-Hochburg Izmir. In Istanbul wurde eine Kopftuchträgerin auf offener Straße attackiert. Bei einer groß angeküdigten Demo auf dem Taksim-Platz wurden Armenier, die versucht hatten ein Gedenkmonument aufzustellen, angegriffen. Auf Kurden gab es während der Proteste ebenfalls Übergriffe.

Die Vertreter der Gezi-Bewegung argumentierten zunächst wie die Regierung und postulierten eine Verschwörung durch die Regierung, um die Bewegung zu diskreditieren. Zu einer Verurteilung der Gewaltakte kam erst, als sich herausstellte, dass es sich bei den Angriffen um keine Verschwörung handelte.

Trotz allem ist die Gezi-Bewegung einzigartig in der türkischen Geschichte. Es ist die erste große Protestbewegung, die sich trotz aller Polizeigewalt und Ausschreitungen eine Art "demokratische Seele" bewahren konnte, weil sich das Militär herausgehalten hat. Der "Kampf" wurde zwischen RegierungsgegnerInnen und einer gewählten Regierung ausgetragen.