Erstellt am: 18. 6. 2013 - 13:42 Uhr
Copyright blockt Austausch von Blindenbibliotheken
"Ist das nun ein Vertrag für Blinde oder einer für Rechteinhaber?" So fragte der Weltverband der Blinden öffentlich im Vorfeld zur Konferenz der "World Intellectual Property Organization" (WIPO). Die UNO-Teilorganisation tagt seit Sonntag in Marrakesch (Marokko), bis 30. Juni soll der neue "Vertrag über den Zugang für publizierte Werke durch sehbehinderte und leseschwache Personen", dann unterschriftsreif ausverhandelt sein.
Nach Willen mehrerer EU-Mitgliedsstaaten soll jedoch eine gewaltige Barriere weiterhin bestehen bleiben, deren Abschaffung das Angebot an Hörbüchern für Blinde weltweit schlagartig vervielfachen würde.
Das Problem ist nämlich, dass die nationalen Blindenverbände ihre Audiobibliotheken nicht so vernetzen dürfen, dass einmal eingespielte Audiobücher auch in anderen Staaten verfügbar sind. Diese Hörbücher für Blinde unterscheiden sich von Hörbüchern für Sehende gleich in mehreren Punkten, angefangen mit einem eigens auf die Bedürfnisse Blinder zugeschnittenen Standardformat (siehe unten).
CC flickr.com/horiavarlan/
Die Situation in Österreich
"Wir dürfen den großen Bestand der deutschen Verbände leider nicht in unsere Hörbücherei aufnehmen, das gilt auch umgekehrt", sagte Raimund Lunzer, Sprecher des österreichischen Blinden- und Sehbehindertenverbands auf Anfrage von ORF.at. Das würde den Prozentsatz jener Bücher, die für Blinde zugänglich sind, hierzulande signifikant erhöhen.
"In Österreich sind nur fünf Prozent der im Buchhandel auf deutsch erhältlichen Werke für Blinde aufbereitet", so Lunzer weiter, "Wir sind zwar international schon lange mit den anderen Blindenverbänden vernetzt und benutzen auch einen einheitlichen Softwarestandard. Wir warten aber nun schon seit 25 Jahren, dass hier ein systematischer Austausch von Audiobüchern stattfinden darf. Es ist unverständlich, dass diese Barrieren immer noch bestehen und seitens einiger WIPO-Mitgliedsstaaten auch beibehalten werden sollen".
Die im September 2012 verabschiedete EU-Richtlinie über den Umgang mit "verwaisten Werken" hatte das Ziel, die Republikation von historischem Filmmaterial bis hin zu Texten zu ermöglichen. Die Prüfungsauflagen dafür wurden entlang des bestehenden Copyrightregimes aber so gestaltet, dass diese Berge von Archivmaterial erst recht nicht mit vertretbarem Aufwand wiederveröffentlicht werden können.
Status Quo Österreich und Deutschland
Laut Blindenverband dürfen österreichische Audiobücher an Blinde in Deutschland nur dann einzeln weitergegeben werden, wenn diese auch Mitglieder des österreichischen Verbandes sind, und umgekehrt.
Die Copyrights werden nämlich nicht für Sprachräume vergeben, vielmehr gelten strikt territoriale Grenzen. Mehrere Staaten sind im EU-Ministerrat nun dafür eingetreten, dass dieser Status nicht angetastet wird.
Die EU-Staaten auf der Bremse
Wie aus verschiedenen, gewöhnlich gut informierten Brüsseler Kreisen zu erfahren war, kommt der stärkste Widerstand gegen die Aufhebung dieser Länderbarrieren aus Deutschland und Frankreich. Des weiteren wurden Italien, Litauen aber auch Großbritannien genannt, die eine internationale Vernetzung der Audiobibliotheken für Blinde blockieren.
Die Alternative wäre natürlich, für jedes Buch aus Deutschland eine Lizenz für Österreich zu lösen, sagt Lunzer, "Die Kosten von 12 Euro pro Titel klingen zwar nicht viel. Hier ist aber von Zigtausenden Büchern die Rede und zusätzlichem, administrativem Personalaufwand für die notwendigen Recherchen." Da ein einfacher Zusammenschluss und Austausch der katalogisierten Audiobücher nicht möglich sei, müsse man sich mit einer Art von Fernleihesystem behelfen.
Der letzte bekannte Status des "Internationalen Vertrags über Beschränkungen und Ausnahmen für sehbehinderte und lerseschwache Personen" vor Beginn der WIPO-Verhandlungen in Marrakesch.
Was Hörbücher für Blinde unterscheidet
CC flickr.com/psd
Diese Audios für Blinde sind mit den kommerziellen Hörbüchern der Verlage nicht zu vergleichen, die in der Regel nur Exzerpte von meist belletristischen Werken sind. Die Audioversionen für Blinde bieten hingegen vom Inhaltsverzeichnis angefangen den kompletten Text jedes Werks samt Fußnoten, Anmerkungen und Marginalien in einer seit 1992 entwickelten Software namens "Daisy".
"Daisy" läuft sowohl auf kleinen tragbaren Geräten wie auch auf Windowssystemen.Über das Programm lassen sich nicht nur Lesezeichen setzen, die blinden Hörer können auch eigene Anmerkungen und Verweise als Audio dazu einsprechen. In diesem internationalen Format sind, je nach Land, maximal sieben Prozent der erhältlichen Buchtitel vertont erhältlich. In ärmeren Ländern liegt diese Quote weit unter drei Prozent.
Daisy ist der weltweite Standard für navigierbare, zugängliche Multimedia-Dokumente. Die Abkürzung DAISY steht für Digital Accessible Information System. Mehr dazu in der Wikipedia
Parlament, Kommission, Ministerrat
Sowohl der Rechtsausschuss des EU-Parlaments wie auch der Petitionsausschuss hatten sich davor schon einmütig für möglichst weit gehende WIPO-Regeln im Sinne blinder Menschen ausgesprochen.
Die Kommission habe dabei allerdings die gesamte Zeit sehr zurückhaltend argumentiert, obwohl erst vor drei Jahren offiziell die "Strategie für ein barrierefreies Europa 2010 bis 2020" ausgerufen worden sei, sagte die Abgeordnete zum Europaparlament Eva Lichtenberger (Grüne) auf Anfrage von ORF.at.
Die Position der EU-Kommission bei den WIPO-Verhandlungen in Marrakesch basiere ja auf den Vorgaben des EU-Ministerrats, die allerdings nicht öffentlich bekannt sind. Deshalb habe sie im Auftrag des parlamentarischen Rechtsausschusses um Einblick in das Verhandlungsmandat des Ministerrats an die Kommission ersucht.
Der österreichische Blindenverband ruft dazu auf, die Petition der Weltblindenunion zu unterstützen, um "blinden und sehbehinderten Menschen in Österreich Zugang zu den Beständen ausländischer Blindenbibliotheken" zu ermöglichen.
Copyright-Sittenbild aus Brüssel
Nach langem Hin und Her wurde Lichtenbergers Einsichtsbegehr seitens des Ministerrats stattgegeben. Laut Schilderung der Abgeordneten vollzog sich die Einsichtnahme in das vom Rat an die Kommission erteilte WIPO-Verhandlungsmandat in einem Büro im Gebäude des Ministerrats zu Brüssel vor einer Woche so. Flankiert wurde die Parlamentarierin, die keinerlei Elektronik, sondern nur Papier und Bleistift mitnehmen durfte, dabei von zwei Mann des hauseigenen Wachpersonals.
"Was im Mandat steht? Inhaltlich nicht weniger und nicht mehr, als dass der Zugang für Blinde erleichtert werden solle - aber unter Berücksichtigung des bestehenden Copyrightsystems", so Lichtenberger abschließend: "Hier wird nämlich das Prinzip der Copyrightvergaben entlang von Ländergrenzen erbarmungslos gegen Blinde umgesetzt."