Erstellt am: 17. 6. 2013 - 18:36 Uhr
Sonar 2013
125.000, also eine Achtelmillion Menschen und ich stürmten am Wochenende die zwanzigste Ausgabe des Sonar Festivals in Barcelona, um sich an insgesamt über sechzig Stunden elektronischer Musik zu erfreuen. Das kostet Kraft und kann zur Anstrengung ausarten.
Wenn ihr euch bei der Sonar dem gepflegten konzentrierten Musikgenuss hingeben wollt, euch von Zeit zu Zeit die "Sinnfrage" stellt, vergesst es, ihr werdet sehr viel Zeit damit verbringen durch Hallen zu laufen, euch für Getränke, Toiletten und sonstige Scherze anzustellen.
Wenn ihr hingegen die letzten Wochen in Isolationshaft, einer dunklen Wohnung oder auf einer einsamen Insel verbracht habt und auf Menschen in Ausnahmezuständen steht, dann ist dieses Rambazamba genau das richtige für euch.
Um sieben Uhr in der Früh interessiert und erfreut mich im Regelfall gar nichts, dennoch konnte ich mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen, als ich am Donnerstag in ein Flugzeug stieg, das zum Teil mit sonnenbebrillten, Bierdosen schwenkenden Menschen besetzt war.
In Barcelona machte ich mich auf, das neue Gelände der Sonar bei Tag zu erkunden. Es sind die Messehallen bei der Placa Espana, die sich in den folgenden Stunden und Tagen zu einem eigenen Stadtteil mit eigenen Regeln verwandeln werden. Den Charme und die Infrastruktur der Altstadt, den man goutieren konnte, als die Sonar noch im MACBA, dem Museum für Gegenwartskunst stattfand, kann man hier freilich nicht mehr inhalieren.
Eine kleine Anmerkung
Ich komme aus einer Zeit, in der man noch keine Lachkrämpfe ausgelöst hat, wenn man verkündet hat, dass Techno auch etwas mit sozialutopistischen und politischen Ideen zu tun habe, dass es um alternative Lebenskonzepte, eine Einverleibung des desolaten öffentlichen Raums und um Solidarität gehe, dass in Clubs Utopien des Umgangs miteinander gelebt werden können.
Ich habe Clubs, stillgelegte Verschiebebahnhöfe, Lagerhallen und Steinbrüche, ausgerüstet mit Boxentürmen, vor vielen Jahren als mein bevorzugtes Habitat erwählt, weil es Freiräume waren. Orte, in denen im Idealfall - und den gab es statistisch recht oft - die Regeln des Draußen nicht gegolten haben, für 12, 24, 36 Stunden. Es war egal, woher man kam, man konnte so queer, illuminiert, expressiv, introspektiv, verspuhlt, erleuchtet sein, wie man wollte.
Ich würde nach wie vor dafür kämpfen, dass Clubs Orte bleiben, in denen Individualität geübt wird, die vielleicht ein Brutkasten für Identitäten sind, wo Kraft gesammelt wird, all das später nach Draußen zu tragen. Mir ist schon klar, dass es da Abstufungen gibt und dass Clubs auch Orte sein können, wo ein völlig normenkonformes Nachspielen eines popkulturell konstruierten Ideals praktiziert wird und lauter Rihanna- und Swedish-House-Mafia-Klone herumrennen.
Wie im Disneyland - voller Regeln
Barcelona wirkt auf mich wie ein für Touristen geräumtes Disneyland. Ich war bei ein paar OFF Sonar Partys und selten bin ich in Clubs mit soviel Regeln konfrontiert worden, damit die Massenabfertigung funktioniert, die Easy Jet Rave Crew brav bleibt, weiter Geld gemacht wird und die Betreiber keinerlei Probleme mit der Stadtverwaltung kriegen.
Ich habe keine Lust meine Freizeit an Orten zu verbringen, an denen ich von mehr Regeln und Normen belästigt werde als bei Tageslicht. Dann kann ich mich gleich mit Kopfhörern auf einen US-amerikanischen Flughafen setzen und darauf warten, dass der Homeland Security langweilig wird. Wenn man auf der Straße, in einer Bannmeile rund um einen Club, nicht mehr lachen, reden oder rauchen darf, dann ist es für mich vorbei. Meine Fresse seht ihr in euren sterilen Entertainment-Kühlschränken mit dem lächerlichen Bevormundungsregime nie wieder, meine Talerchen kriegt ihr auch nicht. Ich spar auf ein eigenes Sound System: Deep House into the wild!
Aber zurück zur Sonar, wo man lachen, sprechen und rauchen durfte. Ich habe ein paar neue Obsessionen aufgegabelt:
Cassegrain
On Demand
La Boum De Luxe zum Nachhören: Für sieben Tage im Stream
Cassegrain sind Alex Tsiridis und Hüseyin Evigren und sie machen deepen, deepen Techno. Ihre Produktionen sind so stark, brillant und hypnotisch, dass sie jeden Raum einnehmen können, alles wegwischen. Ihr Set auf der Bühne der Music Academy hat für mich die Sonar eröffnet. Es ist am Freitag in La Boum gelaufen und ihr könnt es euch hier reinziehen.
RBMA
Mykki Blanco
Mykki Blanco habe ich in letzter Zeit schon viermal bei diversen Festivals gesehen, beim Sonar war er in Höchstform - diesmal nicht im Diva-, sondern im Versace-Boy-Outfit.
juan sala / sonar
Entweder war er im Publikum oder das Publikum war auf der Bühne: Die Grenze zwischen Performer und Publikum wurde von the Illuminati Prince/ss ebenso aufgelöst, wie die Boy/Girl-Grenze.
Oddisee
Bei dem Konzert des Producers und MC Oddisee,
der mit Band auftrat, begann der Eisklotz in meiner Brust zu schmelzen, vergessen waren die Molly Peilo Kids, die mir permanent auf die Füße stiegen und mich mit Bier anschütteten. Beim seelenvollen Hip Hop des durch die Jazzy-Jeff-Schule gegangenen Oddisee musste ich an zwei Dinge denken, die mir wert und lieb sind: The Roots und meine Mutter. Wobei meine Mutter natürlich kein Ding ist und ich eher den musikalischen Common Ground, den wir uns teilen, meine.
ZA!
za / sonar
Dass meine Freundinnen hart im Nehmen sind, wusste ich schon immer, sonst wären sie auch nicht meine Freundinnen. Aber dass ihre Hingabe an den musikalischen Exzess größer ist die meine ist, musste ich feststellen, als ich kurz nach dem Aufstehen zum Konzert von ZA! geschleppt wurde. Das Programm beschreibt sie so : "references that can range from free jazz to traditional africana, pumping dancehall rave, and industrial dislocated krautrock." Und fügt noch ein paar Mal das Wort Madness!!!, Madness!!! ein. In meinem Kopf reimt sich folgende Beschreibung zusammen: Telefon-Freizeichen werden zu rhythmischen Strukturen geloopt und kombiniert mit Vocals, die nach Vocoder-Gesängen einer Mammut-Herde aus einem psychedelischen Trickfilm aus den 1970ern klingen.
DZA
Und ich habe einen neuen Lieblings-Party-DJ. Er nennt sich DZA und kommt aus Moskau. Sein Set beginnt mit Euphorie erzeugendem und Nackenhaare aufstellendem Synthie-Gequietsche. Mein Hirn schüttet alles an Endorphinen aus, was in den letzten Jahren nicht schon aus dem Hypothalamus rausgespült wurde. Als er einen auf der Stelle erzeugten Bass-Remix von Ol' Dirty Bastards "Shimmy Shimmy Ya" ( Wu Tang is for the children) spielt, beginnen die Menschen zu schreien. DZA kann die Smiths zu den Ultramagnetic MCs scratchen.
birgit eschenlor odb
Es ist ein großartiger Moment, der zeigt, wie mit DJ-Skills Genregrenzen null und nichtig sind, und dass in Mixes etwas erzeugt werden kann, das viel mehr ist als die Summe der einzelnen Teile. Ich werde versuchen, das Set für La Boum de Luxe zu organisieren, einstweilen empfehle ich wärmstens den Besuch seines Soundcloud-Profils.
Siriusmo
Ich bin Siriusmo-Fan. Sein neues Album "Enthusiast" erscheint in Bälde auf Monkeytown, dem Label von Modeselektor. Bei Siriusmo-Produktionen bin ich immer hin und weg, wie man gleichzeitig so groovy und funky - er ist Fan von alten Keyboards - und experimentell und lustig sein kann.
Siriusmo live zu hören und zu sehen ist wegen Nervosität und schlechter Nerven ein rares Vergnügen, deshalb haben Modeselektor Siriusmo quasi heimlich zum Bespielen der großen Bühne mitgenommen, weil, und ich zitiere wörtlich, "er sich sonst in die Hose macht, wenn er im Programm erscheint". Zu sehen, wie er geschätzte zwanzigtausend Menschen zum Auszucken bringt, ist doch sehr schön.
birgit eschenlor odb
Nicht so gut:
JJ DOOM, leider. MF Doom, the metal faced villain brachte letztes Jahr gemeinsam mit dem Producer Jneiro Jarel ein exzellentes Album namens "Keys to the Kuffs" heraus. Doom hat einen riesigen musikalischen Output und eine kolportierte Scheu - oder Abscheu - vor Menschen. Wenn man ihn bei einem Liveauftritt sieht, kriegt man wirklich das Gefühl, dass er eigentlich nur im Studio sitzen und Musik machen will. Seine Bühnenpräsenz erinnert sehr an meine Kindheitsstrategien, wenn ich etwas überhaupt nicht wollte: So tun, als ob man nicht da ist. Was lernen wir daraus? Kauft die Tonträger des brillanten MF Doom, damit er nicht unwillig Konzerte spielen muss, um zu überleben. Wir haben mehr von ihm, wenn er im Studio seinem privaten Latveria sitzt.
Juan Sala / Sonar
Es wurde kolportiert, Skrillex habe sein Set mit Barcelona von Freddy Mercury begonnen, was ja noch lustig wäre, aber die Visuals der zweiten Nummer waren eine einzige Werbeeinschaltung für eine Skatefirma.
Aus diesem Anlass würde ich gerne die letzten Worte der Mimik meines Helden Tyler the Creator überlassen, der nicht auf der Sonar gespielt hat.